Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
Sie führt mich in Richtung Baumgruppe. »Deine Familie hat uns gefunden. Wir müssen weg. Sofort.«
»Was ist mit dem unterirdischen Gang?«, frage ich.
»Zu gefährlich. Vermutlich ist er inzwischen längst blockiert«, antwortet Shannon. »Los, Aria. Schneller .«
Ich folge ihr in die Dunkelheit. Wir fangen an zu rennen. »Schneller«, zischt Shannon. »Schneller!«
Bevor wir das andere Ende der Wiese erreichen, bleibe ich kurz stehen und blicke mich um. Das Haus steht kurz vor dem Einsturz, denn das Feuer wütet heftig und breitet sich unaufhaltsam aus. Rot, orange und schwarz lodern die Flammenzungen aus den Fenstern und aus dem Dach. Plötzlich wird ein Soldat wie eine Kanonenkugel durch die Wand geschleudert und bleibt auf dem Boden liegen. Im Nu ist er halb unter einer Lawine herabfallender Ziegel begraben.
Die Mystikerin Sylvia folgt ihm durch die Wandöffnung, die sie mit ihrer Energie erzeugt hat. Im Feuerschein beschießt sie den Soldaten mit neongrünen Strahlen. Ich höre die Ziegel brechen.
Ich bin froh, dass die Mystiker Gegenwehr leisten – und muss unwillkürlich an Frieda denken. Hat sie es hinausgeschafft? Oder sitzt sie in dem brennenden Haus fest?
Da schreit ein Kind über den Kampflärm hinweg: »Mama!«
»Komm weiter.« Vor dem schwarzen Himmel glitzert das Weiße in Shannons Augen. »Warum bist du stehen geblieben?«
»Mama!«
Diese Stimme kenne ich. Markus. Der mit dem niedlichen Gesicht und dem dünnen braunen Haar. Er war so nett zu mir – und hat keine Mutter, die ihn rettet. Richtig wäre es zu fliehen. Aber wie kann ich ihn im Stich lassen? »Markus ist noch im Haus«, sage ich zu Shannon. »Ich habe ihn gehört. Und da sind noch andere …«
»Du hast keine Zeit, die Märtyrerin zu spielen. Du oder die anderen. Du hast keine andere Wahl.«
»Der Angriff findet meinetwegen statt«, sage ich. »Weil ich hier bin. Ich muss helfen.«
»Wer es bis jetzt nicht nach draußen geschafft hat, hat sowieso keine Chance mehr«, drängt Shannon und packt mich am Arm. »Du kannst nichts …«
Dann höre ich sie nicht mehr. Weil ich sie in der Dunkelheit habe stehen lassen und schon wieder auf dem Rückweg zur Farm bin.
Als ich die Küche betrete, erweist sich die Maske als Glück, denn ich sehe vor lauter Qualm nicht die Hand vor Augen. Das Geschrei klingt gedämpft. Offenbar haben sich die Kämpfe nach draußen verlagert.
»Markus?« Keine Antwort. Meine Hände zittern. Ich schiebe mich langsam vorwärts und stoße dabei aus Versehen eine Keramikschale um. Mit einem lauten Scheppern zerspringt sie auf dem Boden. Dann höre ich es: »Mama! Mama!«
Ich versuche seiner Stimme zu folgen. So taste ich mich an den Schränken entlang durch die Küche zur Essecke. »Mama!«
Auf allen vieren krieche ich über den Holzfußboden, bis ich ein Tischbein erreiche. »Markus? Bist du das?«
Er hat sich unter dem Tisch zu einer Kugel zusammengerollt. Eine Sekunde lang sehe ich durch den Rauchvorhang sein braunes Haar.
»Ich bin’s, Aria. Gib mir deine Hand. Ich helfe dir.«
Beim ersten Versuch bekomme ich nur Luft zu fassen, doch beim zweiten berühre ich seine Finger. Ich ergreife seine Hand und ziehe. »Komm her! Und mach die Augen zu«, fordere ich ihn auf. »Komm zu mir.«
Er gehorcht und kurz darauf kann ich einen Arm um ihn legen und ihn unter dem Tisch hervorziehen. »Duck dich.«
Er sagt nur leise: »Aria.«
Sobald wir draußen sind, reiße ich mir die Maske vom Gesicht und setze sie Markus auf. Sie ist zu groß für ihn, aber besser als gar nichts.
Dann rennen wir. Ich höre ein Knallen wie von einem Feuerwerk, aber das sind keine Silvesterraketen. Über das Feld hallen Schüsse. Schreie und ein Zischen sind zu hören. Die Angreifer suchen mich noch immer.
»Brennt alles nieder!«, ruft jemand.
»Ich habe gesagt: lebend«, schreit ein anderer. »Wir brauchen sie lebend!«
Die geben bestimmt nicht eher Ruhe, bis sie mich gefunden haben.
Wir kommen nicht schnell genug voran. In der Ferne sehe ich die Apfelbäume. Shannon ist verschwunden. Markus ist zu langsam. Ich bleibe stehen und nehme ihn huckepack. »Na los, Junge. Halt dich fest!«
Hoffentlich versteckt sich Shannon hinter den Bäumen und wartet auf mich. »Shannon!«, rufe ich.
Keine Antwort. Ich hetze weiter. Meine Arme ermüden. Markus wird immer schwerer.
Da sehe ich etwas Weißes glänzen – ein Augenpaar. Doch es gehört nicht Shannon.
»Wir haben sie!« Der Mann ist fast doppelt so groß wie ich und dick
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