Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
erste Mal, als sie es mir demonstriert hat, kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern gewesen.
Streck die Hände aus, hat Davida zu mir gesagt, und schließ die Augen. Ihre Fingerspitzen strichen über meine, und dann summte mein ganzer Körper wie ein Bienenstock. Ich habe ein schreckliches Ziehen in mir gespürt. Es fühlte sich an, als versuchte jemand, mein Inneres nach außen zu kehren, mir meine Seele herauszureißen.
Als ich die Augen öffnete, stand ich mir selbst gegenüber: Davida hatte mein welliges braunes Haar, meine braunen Augen, mein Gesicht, ja sogar meine Zähne. Ich kann mir das Aussehen anderer Menschen leihen, hat sie gesagt. Und ich kann anderen mit mystischen Mitteln ein anderes Aussehen geben. Das ist meine Gabe.
Ich mache die Augen auf und bin wieder mitten in Manhattan. Im Licht der Straßenlaterne erkenne ich die schmuddelige rote Markise eines Ladens, dessen Schaufensterscheibe gesplittert ist. Die Risse in der Scheibe sehen aus wie ein Spinnennetz. Ja. Hier bin ich richtig.
Ich gehe ein paar Schritte bis zu einer kleinen Gasse, die von der Straße abzweigt, und werfe einen Blick hinein: ein düsterer Tunnel. Hier hat mir Hunter das Speichermedaillon zurückgegeben.
Auf der anderen Straßenseite ist an einem alten Holzsteg eine Flotte Gondeln für die Nacht vertäut. Ich kneife die Augen zusammen und sehe wieder Stiggson und Klartino vor mir, die Hunter knebeln und von mir wegzerren.
Ich gehe bis zu der Betonmauer des Kanals. Hier lag die Polizeigondel, auf die Hunter geschleppt wurde. Auf der sich Davida versteckt hat, um ihn zu retten.
Hier ist es. Ich spüre es. Hier wurde sie ermordet.
Ich sehe mich um. Es ist dunkel, daher ist das Risiko gering, dass ich beobachtet werde. Ich überlege, ob ich mich ausziehen soll, damit meine Klamotten nicht nass werden, aber das Wasser im Kanal sieht so ekelhaft aus, dass ich mich dagegen entscheide und nur meinen Kapuzenpullover ausziehe.
Ich verstecke meine Tasche und den Pullover in einer dunklen Häusernische, hole die Schwimmbrille hervor und setze sie auf. Schuhe und Socken ziehe ich aus, tappe wieder zurück zur Mauer und tauche die Füße ins Wasser.
Heilige Horste, ist das kalt!
Los, Aria. Spring! Ich zähle bis drei: eins, zwei, drei.
Dann drücke ich mich ab und tauche ins Wasser ein.
Zum Glück habe ich diese Schwimmbrille auf! So kann ich die Augen sogar aufmachen, obwohl die Sicht im trüben Brackwasser ziemlich dürftig ist. Ich schwimme nach unten und taste mich durch Schlamm und Müll und abgestorbene Pflanzen, aber ich schaffe es nicht bis auf den Grund.
Wie soll ich hier ein Herz finden?
Ich schwimme wieder nach oben und hole tief Luft. Dann tauche ich wieder, bis meine Fingerspitzen über etwas Raues kratzen, es fühlt sich an wie Stein. Das muss der Grund sein. Aber selbst wenn hier unten ein Herz ist – wie soll ich es aufspüren? Es ist zu dunkel. Und selbst wenn ich das Herz entdecke, in welchem Zustand wird es sein? Ist es ganz oder fällt es bei der ersten Berührung auseinander? Liegt es irgendwo und wartet auf mich? Was, wenn ein Fisch oder ein anderes Tier es gefressen hat?
Oder werde ich nur Davidas Skelett finden, während ihr Herz längst davongeschwemmt wurde wie Treibgut?
All diese beängstigenden Fragen schießen mir durch den Kopf. Vielleicht war das alles doch keine so gute Idee.
Ich schwimme zurück an die Wasseroberfläche, um Luft zu holen, und unternehme einen letzten Tauchgang, doch alles, was ich finde, ist ein Kieselstein. Damit kann ich wenig anfangen.
Ich schwimme zu einem Steg, an dem einige Gondeln festgemacht sind, und ziehe mich auf die Holzplanken. So gut es geht, wringe ich mein Shirt aus. Die klatschnasse Hose klebt mir an den Beinen.
Glücklicherweise hat niemand meine Tasche geklaut. Ich ziehe mir die Socken, die Sneakers und den Pullover über. Der ist wenigstens trocken. Die Schwimmbrille stopfe ich zurück in meine Tasche.
Auf dem Kanal kräuselt sich das Wasser. Falls Davidas Herz noch dort unten ist, muss ich es finden. Aber wie?
Die meisten Gondolieri haben schon Feierabend, aber ich finde einen, der mich zurück zum Unterschlupf der Rebellen bringt. Es ist mitten in der Nacht, gewiss schlafen alle längst. Die Frage ist, wie ich nun durch das Kraftfeld komme, das das Haus tarnt.
Ursprünglich hatte ich geplant, Turk anzurufen und ihn zu bitten, mich reinzulassen, aber inzwischen ist mir ein anderer Gedanke gekommen.
Ich betrachte die Kette um meinen Hals.
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