Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
Luft.
»Vertrau mir.« Ich drücke Turks Hand. »Und komm einfach mit, okay?«
»Wohin denn?«, fragt er.
Ich überprüfe, ob ich die Kühlbox sicher unter den Arm geklemmt habe, und renne auf das Brückengeländer zu.
»Aria, nein!«, schreit mein Bruder.
Ich springe.
Und falle – ein Gefühl, als presste mir jemand die Luft aus der Lunge, falle und falle, Hunderte Stockwerke in die Tiefe, wo ich in einen der schmutzigen Kanäle stürzen werde.
In den sicheren Tod.
TEIL III
Nicht die Sterne weisen dir den Weg, sondern dein Herz.
Buddha
20
Seltsam, wie klar der Kopf wird, wenn man dem Tod ins Auge sieht.
Die Wut auf Hunter und die Enttäuschung über unsere verkorkste Beziehung verfliegen. Was bleibt, sind bruchstückhafte Erinnerungen: die ersten Schmetterlinge im Bauch, verstohlene Küsse, das Bild eines Hundes, das am Himmel erscheint und mit dem Schwanz wedelt.
Auch der Hass auf meine Eltern verfliegt. Ich denke nicht daran, wie ich in meinem Zimmer eingesperrt war, weil ich mein Gedächtnis nicht ihren politischen Zielen opfern wollte. Ich denke daran, wie ich als kleines Mädchen die Hand meines Vaters gehalten habe. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter an meinem Bett gewacht hat, wenn ich krank war, mir kalte Tücher aufgelegt und gewartet hat, bis das Fieber sank.
Ich denke an Kyle, als er jünger und niedlicher war, an die Freunde, für die ich mich glücklich schätzen sollte, Kiki und Bennie und jetzt Ryah und Jarek, vielleicht auch Landon und Shannon. Ich denke an Davida, die ich jeden Morgen und jeden Abend vermisse. Sie hat mich bis zum letzten Atemzug selbstlos beschützt.
Und Turk. Ihn sehe ich inzwischen mit anderen Augen. Er hat sich um mich gekümmert. Der Junge mit den Tattoos und dem silbernen Motorrad hat sich als echter Schatz erwiesen.
Das silberne Motorrad …
Da ist es. Ein Chromblitz, ein Rad. Oder irre ich mich?
Der Wind zerrt an mir und saugt mir die Luft aus der Lunge, während ich ins schwarze Nichts falle, immer tiefer und tiefer – bis ein grüner Blitz neben mir aufflammt.
Mystische Energiestrahlen schießen unter mir hindurch und dehnen sich aus wie Kaugummi. Ich zähle zehn lange grüne Strahlen, und plötzlich falle ich nicht mehr, sondern liege auf ihnen. Sie bremsen meinen Sturz. Die Kühlbox halte ich fest umklammert.
Ich bin gerettet.
Die grüne Energie pulsiert. Ich sehe zur Seite.
Da ist Ryah, sie ist hoch konzentriert. Sie hat beide Arme ausgestreckt, und aus jeder Fingerspitze kommt einer dieser Strahlen, die mich schweben lassen.
Sie dreht eine Hand und krümmt leicht die Finger. Fünf der Strahlen schieben sich quer unter die anderen und bilden ein Netz.
»Hab sie!«, triumphiert Ryah.
Mit wem redet sie?
Ryah scheint an einem unsichtbaren Seil in der Luft zu schweben. Ich blinzele und sehe vor dem schwarzblauen Himmel etwas Silbernes leuchten. Trotz des Smogs erkenne ich ein Augenpaar.
»Ryah? Wie bist du …?«
»Sei leise, Aria«, flüstert jemand. Eine männliche Stimme. »Du verrätst uns noch.«
Jarek.
Jarek steuert Turks Motorrad.
Er schwebt im Himmel, auf halbem Weg zwischen Horsten und Tiefe, und mithilfe seiner Tarnkraft verschmilzt er mit der dunklen Nacht. Ich habe mich nicht getäuscht, als ich glaubte, das Motorrad gesehen zu haben. Jetzt, nachdem ich weiß, wonach ich suche, erkenne ich Jareks Hände am Lenker. Ryah sitzt neben ihm in einem chromfarbenen Beiwagen, den ich noch nie gesehen habe.
Von der Brücke oben hallt Geschrei zu uns herunter, dann sehe ich, wie sich jemand von der Brücke stürzt. Bestimmt fragen sich Kyle und seine Soldaten, wo die mystische Energie herkommt.
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte«, sagt der fast unsichtbare Jarek. »So etwas Großes habe ich noch nie getarnt.«
»Hoffentlich ist das Turk«, sagt Ryah und schaut zu der Gestalt hinauf, die auf uns zufliegt und mit jeder Sekunde größer wird. »Ich habe keinen Bock auf einen von Kyles Leuten.«
Es ist tatsächlich Turk, der neben mir ins Netz fällt.
Er starrt mich mit großen Augen an. »Woher wusstest du, dass sie hier sind? Dass Ryah dich auffängt?«
»Ich wusste es nicht.« Ich strecke die Hand aus und fasse ihn am Arm. »Ich hab einfach alles auf eine Karte gesetzt.«
Turk lächelt. Vom Quecksilber ist er noch schwach, aber die Hauptsache ist, dass er lebt.
Dass wir beide noch leben.
»Kommt, Leute«, sagt Ryah. »Ehe die Soldaten auch runterspringen.«
Sie hebt die Arme, als würde sie ein riesiges
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