Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
stets etwas Spöttisches. Wie immer trägt er einen dunklen Anzug und dazu eine helle Krawatte. Das schüttere Haar hat er nach hinten gekämmt, seine Wangen sind gerötet. Wie Elissa hat er die blasse Hautfarbe der Mystiker, wirkt aber ansonsten kräftig und gesund. Er zieht fragend die Augenbrauen hoch. »Was machen Sie hier? Sie sollen arbeiten und sich nicht mit der Belegschaft verbrüdern.« Er kneift die Augen zusammen. »Sie müssten es doch besser wissen, Genevieve.«
»Ach, beruhigen Sie sich«, erwidert Elissa. »Aria leistet gute Arbeit.«
»Gute Arbeit?« Seine Betonung verrät, dass er anderer Meinung ist. »Auf ihrem Schreibtisch liegt ein riesiger, unbearbeiteter Aktenstapel. Aber statt zu arbeiten, geht sie mit ihren Freundinnen zum Mittagessen und verspätet sich auch noch.« Benedict wendet sich mir zu. »Ich habe Ihrem Vater schon von Ihrer laxen Arbeitsmoral berichtet und er ist nicht gerade begeistert. Er will Sie sehen. Oben.«
Am liebsten würde ich aufstehen und ihm in seine blasierte Visage schlagen. Aber damit würde ich nichts erreichen – rein gar nichts.
»Jetzt gleich«, fügt Benedict hinzu.
Ich warte vor der Doppeltür. Das Büro meines Vaters nimmt das gesamte oberste Stockwerk ein. Die Tür ist aus glänzendem Messing, das ein Rosenrelief ziert. Die Ränder der Blütenblätter sind so scharf geschliffen, dass man sich leicht daran schneiden könnte. Zwei vierschrötige Bodyguards mit Rosentattoo auf der Wange stehen davor und halten die Arme vor der Brust verschränkt. Catherine, die Sekretärin meines Vaters, sitzt an ihrem Schreibtisch.
»Er empfängt Sie jetzt«, teilt Catherine mir mit. Die Wachen treten zur Seite und ziehen die Tür auf. Ich knickse knapp und gehe zwischen ihnen hindurch. Die Türflügel schließen sich mit einem leisen Klicken hinter mir.
In dem klimatisierten Raum kriege ich sofort Gänsehaut. Hier ist es noch kälter als im Rest des Gebäudes. Die gegenüberliegende Wand ist eine einzige Fensterfront mit Blick auf den Hudson. Sonst lässt sich hier nichts Modernes finden. Wandvertäfelung und Böden aus Mahagoni, braune Ledercouches und vollgestopfte Bücherregale erinnern an die Industriebarone des neunzehnten Jahrhunderts.
»Setz dich.« Mein Vater deutet auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Er trägt einen dunklen Anzug und eine blaue Krawatte mit orangefarbenen Tupfen. Er ist glatt rasiert und seine dunklen Augen funkeln fast wie der Edelstein im Familienwappen der Roses, das den Ring an seinem rechten Zeigefinger ziert.
Hinter ihm hängt ein impressionistisches Ölgemälde in einem Goldrahmen: Sonnenuntergang über dem Hudson River in Gold und Orange. Ich habe es noch nie gesehen. Wie die Gemälde im Apartment der Fosters wurde auch dieses mit mystischer Magie behandelt, Rot- und Rosatöne wechseln einander ab und der blaue Fluss wogt hin und her.
»Danke.« Ich werfe einen Blick auf seinen TouchMe. Dad reagiert sofort. Ein Knopfdruck – und der Bildschirm ist leer. »Du wolltest mich sprechen?«
»Als Erstes würde ich gerne wissen, weshalb ich ständig Beschwerden von Patrick über dich bekomme. Er sagt, du würdest deine Aufgaben nicht ernst nehmen.«
»Ich nehme sie sehr wohl ernst …«
»Du hast um diese Chance gebeten. Wenn du schlau wärst, würdest du alles tun, was verlangt wird, und dich sogar darüber hinaus engagieren. Stattdessen trödelst du und machst nur das Allernotwendigste – wenn überhaupt.«
»Das stimmt nicht, Dad. Benedict hat mich auf dem Kieker.«
»Niemand hat dich auf dem Kieker«, erwidert er ernst. »Wenn ich noch eine einzige Klage höre, schicke ich dich sofort nach Hause und wir vergessen dieses Experiment. Verstanden?«
»Ja.« Was sollte ich auch anderes sagen?
Er steht auf und winkt mich auf die andere Seite, ans Fenster. »Was siehst du da draußen?«
Von hier aus erscheinen die Wolkenkratzer Manhattans kalt und bedrohlich, eine Metropole aus nacktem Stahl, durchsetzt von kleinen Inseln, eine Ansammlung von Ungetümen aus Glas und Stein.
»Ich sehe eine Stadt«, antworte ich.
Er schnalzt mit der Zunge. »Das ist genau das Problem. Das ist nicht irgendeine Stadt. Es ist deine Stadt.«
»Dass wir uns nicht mehr so nahestehen wie früher, hat seine Gründe«, fährt er fort. »Wir ähneln uns so sehr, du und ich. Deine Mutter und dein Bruder sind anders … weicher. Ich erinnere mich, wie du vor Jahren mit Kiki gespielt hast, gefallen bist und dir das Knie aufgeschlagen hast. Du hast nicht
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