Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
geweint und nicht um Hilfe gerufen. Du hast dir nur das Blut abgewischt und weitergespielt.« Diesmal ist in seinem Lächeln echte Wärme. »Damals wusste ich schon, dass du für Großes vorherbestimmt bist. Unter deiner Schönheit verbirgt sich ein unbeugsamer Wille. Ich bin sicher: Du wirst die Traditionen unserer Familie fortführen.«
»Aber wir brechen doch gerade mit diesen Traditionen!«, erwidere ich. »Wenn ich Thomas heirate, beende ich die Fehde.«
»Ja.«
Und plötzlich kann ich nicht mehr zurückhalten, was mich im Innersten umtreibt. »Was, wenn ich Thomas gar nicht heiraten will?« Bei diesen Worten muss ich an den Jungen aus meinen Träumen denken, wer auch immer er sein mag.
Ich erwarte einen Wutausbruch oder eine Ohrfeige. Doch es geschieht nichts dergleichen. Er presst die gespreizten Finger gegen die Glasscheibe. »Ich war auch mal jung und hatte Träume … Träume, die so gar nicht zu den Plänen meines Vaters passten.« Seine Miene wird milder. »Die Familie steht für mich über allem, an ihr habe ich mein Leben ausgerichtet. Wo die Interessen der Familie auf dem Spiel stehen, musst du Flagge zeigen.« Er hält inne. »Wenn du dich gegen uns entscheidest, sind wir auch gegen dich. Dein Name wird aus unserem Stammbaum gelöscht, als hättest du nie existiert.«
Meine Lippen beginnen zu zittern und ich fürchte, im nächsten Moment in Tränen auszubrechen. Auf keinen Fall darf er meine Schwäche sehen.
»Geh jetzt«, sagt er, und schon bin ich auf dem Weg zur Tür. »Noch etwas!«, ruft er mir hinterher.
Ich blicke mich um. Er ist an seinen Schreibtisch zurückgekehrt und hat die Hand auf dem TouchMe. »Ich liebe dich«, sagt er.
10
Als ich an diesem Abend von der Arbeit heimkomme, gehe ich sofort auf mein Zimmer. Ein penetrant süßlicher Duft schlägt mir entgegen. Rosen überall. Für jeden Tag meines Ferienjobs hat mir Thomas einen Rosenstrauß gekauft. In jedem steckt eine Karte mit einem klischeehaften Liebesgruß. Ich denke jede Minute an dich , steht da oder: Ich liebe dich jeden Tag mehr. Diese Sprüche hat wahrscheinlich sein Assistent geschrieben.
Ich sehe Thomas fast jeden Abend. Er kommt zum Essen und redet mit meinem Vater über Politik und die Wahlen, während meine Mutter mir Stoffmuster und Menüvorschläge zeigt.
Wir sind ins Kino gegangen, haben zusammen ein Eis gegessen. Er hat sich rührend um mich bemüht. Manchmal sehe ich ihn an und denke: Was für ein hübsches Gesicht! Es könnte das Gesicht aus meinen Träumen sein.
Aber meine Gefühle für Thomas sind wie schmelzendes Eis. Wenn ich versuche mich an unsere gemeinsame Vergangenheit zu erinnern, löst sich alles auf. Erinnere dich , ermahne ich mich mit den Worten der geheimen Nachricht, die mir zugesteckt wurde, mit den Worten des Fremden aus meinen Träumen. Erinnere dich. Erinnere dich. Erinnere dich.
Ich habe mich fürs Abendessen umgezogen. Inzwischen trage ich mein Haar länger als früher. Wenn ich es nach hinten binde, fällt es mir in weichen Wellen über die Schultern und bringt mein Gesicht erst richtig zur Geltung. Ich suche in den Schubladen meiner Kommode nach einem Haarreif, schiebe Armbänder und Schildpattkämme zur Seite. Dabei entdecke ich einen Riss in der Papierauskleidung.
Ich streiche über das blau-weiß gestreifte Papier. Der Riss folgt exakt einer der blauen Linien; er ist so fein, dass man ihn kaum bemerkt. Als ich versuche ihn mit dem Fingernagel glatt zu streichen, spüre ich etwas darunter.
Vorsichtig greife ich unter das Papier und ziehe. Einzelne Blätter kommen zum Vorschein. Ich lege sie ordentlich auf einen Haufen. Eindeutig Briefe. Der oberste ist sechs Monate alt. Was machen die hier? Ich sortiere die Bögen nach Datum. Mit dem ältesten fange ich an.
Vor drei Tagen sind wir uns in der Tiefe begegnet. Drei Tage lang habe ich nur an dich gedacht. Da ich Angst habe, dass diese Nachricht in die falschen Hände gerät, will ich nicht mehr sagen. Komm morgen Abend ins Circle. Bitte. Ich möchte nur noch einmal in deine Sternenaugen schaun und vielleicht willst du auch mir noch einmal in die Augen sehn. (Zu kitschig?)
Mein Atem geht schneller und ich spüre eine Beklemmung in der Brust. Ich habe ein Versteck mit Thomas’ Liebesbriefen gefunden, das ich offenbar aus Sicherheitsgründen geheim gehalten habe. Ich lese weiter.
Ich habe gewartet und gewartet, aber du bist nicht gekommen. Diese Woche war schrecklich. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen, ich werde noch
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