Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
Boden schlafen oder sich neben einer Feuertonne in eine Decke rollen. Doch was ich hier sehe, ist eine gemütliche Wohnung. Es gibt eine Küche mit Essecke, einen Ofen und Schränke. An einer Wand steht ein langes Sofa, auf dem sich weiche Kissen türmen, an den Wänden sind Metallregale voller Bücher: Dramen, Romane und Bände über die Geschichte Manhattans. Eine türkis lackierte Gitarre ruht neben dem Sofa auf einem Ständer. Ich erinnere mich: In der ersten Nacht im Java River hat mir Hunter erzählt, dass er Musik liebte.
»Meine kleine Junggesellenbude«, erklärt er.
»Super«, lobe ich. Ich trete zu einem Foto, das ihn mit seiner Mutter zeigt. Darauf ist er höchstens zehn; beide, Mutter und Sohn, lächeln unbeschwert. Ich liebe solche Bilder, denn sie halten einen Augenblick, der nie zurückkehren wird, für immer fest.
»Du blutest ja!«
Ich betrachte mein Bein: Der Schnitt sieht schlimmer aus als vorhin, auf meinem Kleid hat sich ein großer Blutfleck gebildet.
»Halt still«, sagt Hunter und drückt seine Hand auf mein Bein. Seine Hände leuchten grün, als würde er die Wunde bestrahlen. Meine Haut brennt, aber der Schmerz dauert nur wenige Augenblicke. Dann erlischt das grüne Licht und die Schnittwunde ist verschwunden.
Hunter geht zu seinem Waschbecken und macht ein Tuch nass. Dann wringt er es aus, kniet sich vor mich hin und wischt mir das Blut vom Bein. In kreisenden Bewegungen reibt er sanft über Knöchel und Wade. Mir bleibt die Luft weg. Dann küsst er die Stelle, an der zuvor die Wunde war. Er sieht mich an mit Augen, die blau schillern wie das Meer. »Schon besser«, sagt er, steht auf und lässt das Tuch ins Waschbecken fallen. Dann fragt er: »Wie bist du hier runtergekommen? Alle Eingänge sind durch mys-tische Sperren blockiert.«
»Ich bin einer Frau gefolgt«, sage ich und das ist zumindest nicht gelogen. »Sie hat einen Eingang geöffnet und ich konnte ihr hinterherschleichen. Ich wollte unbedingt mit dir reden.«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Alles in Ordnung?«
Ich setze mich auf die Sofakante. Wo soll ich anfangen? Bei dem Mädchen mit der Überdosis Stic? Bei Thomas, der sich offenbar eine »Überdosis« Thea gegönnt hat? Bei Davida, die wie eine Spionin durch South Street Seaport geschlichen ist?
Da fällt mir was Besseres ein: Ich drehe einfach den Spieß um. »Warum lässt du dich nicht einfach registrieren? Wäre dann nicht alles … einfacher?«
Hunter erstarrt. »Einfacher? Wer registriert ist, muss zur Abschöpfung.« Er zögert. »Hast du eine Ahnung, wie weh das tut?«
»Ich kann es mir nur vorstellen.«
Er steht auf. »Sie hängen dich an eine schreckliche Maschine und verdrahten dich überall. Dann saugen sie dir alle Lebensenergie aus bis auf einen kärglichen Rest. Es heißt, es fühle sich an, als werde einem mit Messern die Haut aufgeschlitzt.«
»Das wusste ich nicht«, sage ich und fühle mich plötzlich schuldig, denn meine Familie ist für die Abschöpfungen verantwortlich.
»Danach ist man monatelang geschwächt, am Anfang kann man nicht mal richtig gehen.« Ich werde nervös, so eindringlich ist sein Blick. »Aber der Schmerz ist nicht mal das Schlimmste. Es geht um etwas ganz anderes. Die Kraft ist für einen Mystiker Teil seiner Seele. Die Abschöpfungen bringen uns langsam, aber sicher um. Ich werde mich niemals registrieren lassen. Niemals.«
»Ich kann dich verstehen«, sage ich rasch. »Ehrlich.«
Hunter tritt an eines der geschwärzten Fenster. »Außerdem brauche ich meine geheimen Fähigkeiten noch.«
»Wofür?«
»Um eine Schnittwunde an deinem Bein zu heilen, zum Beispiel«, sagt er. »Oder für den Fall, dass meine Mutter die Wahl verliert.« Er kommt wieder zu mir und legt mir eine Hand aufs Knie. So wie von ihm bin ich noch nie berührt worden: Jedes Mal möchte ich mehr, mehr, mehr.
»Vermutlich fragst du dich, warum ich nicht bei meiner Mutter wohne«, sagt Hunter.
»Na ja, schon …«
»Mystiker haben auch früher die Öffentlichkeit gescheut«, erzählt er. »Mein Großvater war einer der Ersten, die sich ans Licht wagten.«
»Sie lebten im Verborgenen?«
Hunter nickt. »Meine Vorfahren wurden schon von Anbeginn der Zeit verfolgt. Man nannte uns Zauberer oder Dämonen – und hat uns getötet, weil wir anders waren als die anderen. Nicht wenige von uns endeten auf dem Scheiterhaufen.«
»Und was ist passiert? Was hat sich verändert?«
»Vor dem Ersten Weltkrieg kamen viele Menschen in der Hoffnung auf ein
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