Mystic River
auf und stellte den Stuhl zurück an den Küchentisch. Er hob eine Kühlbox an, sah zur Tür. »Können wir jetzt wieder runtergehen, Theo?«
»Klar«, entgegnete Theo. Er ließ seinen Stuhl stehen und nahm die zweite Kühlbox. »Schon gut, schon gut«, sagte er, »war keine gute Idee von mir, ausgerechnet heute Morgen mit dir zu sprechen. Du bist noch nicht so weit. Aber …«
»Theo? Lass es einfach! Du brauchst überhaupt nichts zu sagen. Wie findest du das? In Ordnung?«
Jimmy trug die Box zur Treppe. Er fragte sich, ob er Theo möglicherweise wehgetan hatte, merkte dann aber, dass es ihm kackegal war. Scheiß drauf. In diesem Moment begannen sie mit Katies Autopsie. Noch immer hatte Jimmy den Geruch ihres Bettes in der Nase, aber da unten in der Gerichtsmedizin reihten sie jetzt Skalpell und Rippenspreizer auf und warfen die Kreißsäge an.
Später, als es ein bisschen ruhiger geworden war, ging Jimmy nach draußen auf die Veranda und setzte sich unter die flatternde Wäsche, die seit Samstagnachmittag dort auf der Leine hing. Da saß er, ließ sich von der Sonne wärmen und Nadines Jeans-Overall strich ihm übers Haar. Annabeth und die Mädchen hatten die letzte Nacht durchgeweint, die Wohnung mit ihrem Klagen erfüllt und Jimmy hatte das Gefühl gehabt, er würde jeden Augenblick in ihr Jammern einstimmen. Tat er aber nicht. Auf dieser Böschung im Park hatte er geschrien, als er den Blick in Sean Devines Augen gesehen hatte, der ihm sagte, dass seine Tochter tot war. Heiser geschrien hatte er sich. Aber abgesehen davon hatte er nichts fühlen können. Deshalb saß er jetzt auf der Veranda und wollte die Tränen hervorpressen.
Er rief sich bestimmte Bilder ins Gedächtnis zurück: Katie als Baby, Katie ihm gegenüber an dem zerkratzten Tisch in Deer Island, Katie, die sich sechs Monate nach seiner Entlassung in seinen Armen in den Schlaf weinte und immer wieder fragte, wann Mommy zurückkommen würde. Er sah Klein Katie vor sich, wie sie in der Badewanne quietschte, und die achtjährige Katie mit dem Fahrrad von der Schule kommen. Er sah Katie lachen und eine Schnute ziehen, sah sie mit wutverzerrtem Gesicht und dann mit ratloser Miene, als er ihr am Küchentisch beim Dividieren half. Er sah eine ältere Katie draußen auf der Schaukel mit Diane und Eve einen ganzen Sommertag faulenzen, die drei ungelenk in ihrer Frühpubertät mit ihren Zahnspangen und den immer schneller und länger wachsenden Beinen, denen der Rest des Körpers nicht hinterherkam. Er sah Katie auf dem Bauch in ihrem Bett liegen und Sara und Nadine, die über sie hinwegkrabbelten. Er sah sie in ihrem Kleid zum Abschlussball. Er sah sie an dem Tag, als er angefangen hatte, ihr das Autofahren beizubringen, sah sie mit zitterndem Kinn neben sich in seinem Grand Marquis sitzen und losfahren. Er sah, wie sie ihn in den Jahren ihrer Pubertät böse und gereizt anblitzte, und fand sie in solchen Situationen meist noch liebenswerter als sie sowieso schon war.
Er sah sie und sah sie und sah sie und konnte doch nicht weinen.
Es kommt schon, flüsterte eine ruhige Stimme in ihm, du hast nur einen Schock.
Aber der Schock lässt schon nach, antwortete er der Stimme in seinem Kopf. Seitdem mich Theo oben blöd angemacht hat.
Und wenn er nachlässt, wirst du etwas fühlen.
Ich fühle jetzt schon etwas.
Das ist Trauer, sagte die Stimme. Das ist das Leid.
Das ist keine Trauer. Das ist kein Leid. Das ist Zorn.
Den wirst du auch fühlen. Aber er geht vorbei.
Ich will gar nicht, dass er vorbeigeht.
16 FREUT MICH AUCH, DICH ZU SEHEN
Dave hatte Michael von der Schule abgeholt, sie bogen um die Ecke und sahen Sean Devine und einen anderen Mann an einer schwarzen Limousine lehnen, die vor dem Haus der Boyles parkte. Die schwarze Limousine hatte ein Regierungskennzeichen und so viele Antennen am Kofferraum, dass sie Signale zur Venus hätte schicken können, und Dave wusste schon beim ersten Blick auf Seans Begleiter aus fünfzehn Metern Entfernung, dass der Kerl, genau wie Sean, ein Bulle war. Er streckte das Kinn so bullenmäßig vor, ein bisschen nach oben, und wippte so bullenmäßig auf den Absätzen nach hinten, obwohl er gleichzeitig den Eindruck machte, auf etwas zuhechten zu wollen. Und falls das noch nicht reichte, wäre der Bürstenhaarschnitt bei einem Mann Mitte vierzig zusammen mit der Pilotenbrille bestimmt der Wink mit dem Zaunpfahl gewesen.
Dave umfasste Michaels Hand fester, er hatte ein Gefühl in der Brust, als hätte man ein
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