Mystic River
Messer in Eiswasser getaucht und die Klinge flach auf seine Lunge gedrückt. Fast wäre er stehen geblieben, weil seine Füße versuchten, im Bürgersteig Wurzeln zu schlagen, doch irgendwas drängte ihn vorwärts, und er hoffte, normal auszusehen, sich lässig zu bewegen. Sean hatte sich ihm zugewandt, sein Blick war anfangs vergnügt und leer, dann verengten sich seine Augen prüfend zu Schlitzen, bis er Dave erkannte.
Beide grinsten gleichzeitig los, Dave strahlte so glücklich wie möglich und Seans Grinsen war auch ziemlich breit.
Dave wunderte sich, so etwas wie echte Freude in Seans Gesicht zu sehen.
»Dave Boyle!«, sagte Sean und löste sich mit ausgestreckter Hand vom Auto. »Wie lange ist das her?«
Dave schüttelte die ihm dargebotene Hand und war ein zweites Mal überrascht, als Sean ihm auf die Schulter klopfte.
»Damals im Tap«, antwortete Dave. »So an die sechs Jahre?«
»Ja. Kommt hin. Gut siehst du aus, Mann!«
»Wie geht’s dir, Sean?« Dave spürte eine Wärme in sich aufsteigen, vor der ihn sein Kopf zu fliehen mahnte.
Bloß warum? Es waren nur noch so wenige übrig von damals. Und die anderen waren nicht nur aufgrund doofer Klischees verschwunden – Knast, Drogen oder Polizei. Die langweiligen Vorstädte hatten sich ebenso viele genommen. Andere waren von fremden Bundesstaaten oder dem Reiz gelockt worden, wie alle anderen zu sein, zu einem großen Land von Golfspielern, Schaufensterguckern und Kleinunternehmern mit blonden Frauen und Riesenfernsehern zu gehören.
Nein, es waren nicht mehr viele da und Dave empfand ein Gemisch von Stolz, Freude und seltsamer Trauer, als er Seans Hand ergriff und sich an den Tag auf dem Bahnsteig erinnerte, als Jimmy auf die Schienen gesprungen war und als Samstage noch Tage waren, an denen wirklich alles passieren konnte.
»Gut geht’s mir«, antwortete Sean und es klang, als meine er es so, auch wenn Dave in seinem Lachen einen kleinen Riss zu erkennen glaubte. »Und wen haben wir da?«
Sean beugte sich zu Michael hinunter.
»Das ist mein Sohn«, erklärte Dave. »Michael.«
»Hey, Michael. Freut mich!«
»Hi.«
»Ich bin Sean, ein alter Freund von deinem Dad.«
Dave sah, wie Seans Stimme Michaels Augen aufleuchten ließ. Sean hatte wirklich eine tolle Stimme, so wie der Mann, der in den Vorschauen immer die neuen Kinofilme ankündigte, und bei ihrem Klang strahlte Michael. Vielleicht stellte er sich gerade vor, wie sein Vater und dieser große, selbstsichere Fremde als Kinder zusammen auf der Straße gespielt und ähnliche Träume gehabt hatten wie Michael und seine Freunde.
»Hallo, Sean!«, sagte Michael.
»Hallo, Michael!« Sean gab Michael die Hand und richtete sich wieder auf. »Hübscher Junge, Dave. Wie geht’s Celeste?«
»Gut, gut.« Dave wollte der Name der Frau nicht einfallen, die Sean geheiratet hatte, er wusste nur noch, dass sie sich am College kennen gelernt hatten. Laura? Erin?
»Richte ihr schöne Grüße von mir aus, ja?«
»Klar. Immer noch bei den Staties?« Dave blinzelte, denn die Sonne war gerade hinter einer Wolke hervorgekommen und wurde vom glänzend schwarzen Kofferraum der Staatslimousine reflektiert.
»Ja«, antwortete Sean. »Das hier ist übrigens Sergeant Powers, Dave. Mein Chef. Morddezernat der State Police.«
Dave gab Sergeant Powers die Hand und das Wort schwebte zwischen ihnen: Morddezernat.
»Hallo.«
»Hallo, Mr. Boyle. Alles klar?«
»Sicher.«
»Dave«, begann Sean, »hast du vielleicht ‘ne Minute Zeit, wir würden dir gern schnell ein paar Fragen stellen.«
»Ja, klar! Worum geht’s denn?«
»Können wir vielleicht reingehen, Mr. Boyle?« Sergeant Powers wies mit dem Kopf auf die Tür des Hauses, in dem Dave wohnte.
»Ja, sicher.« Dave griff wieder nach Michaels Hand. »Mir immer hinterher!«
Als sie an McAllisters Wohnung vorbei die Treppe hochstiegen, sagte Sean: »Hab gehört, die Mieten werden sogar hier teurer.«
»Sogar hier«, wiederholte Dave. »Hier soll es genauso werden wie im Point, an jeder fünften Ecke ein Antiquitätenladen.«
»Wie im Point, ja?«, erkundigte sich Sean schmunzelnd. »Weißt du noch, das Haus von meinen Eltern? Haben sie Eigentumswohnungen draus gemacht.«
»Ohne Scheiß?«, fragte Dave. »Das war so‘n schönes Haus.«
»Mein Alter hat’s natürlich verkauft, bevor die Preise hochgingen.«
»Und jetzt sind Eigentumswohnungen drin?«, fragte Dave mit lauter Stimme im engen Treppenhaus. Er schüttelte den Kopf. »Die Yuppies, die das
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