Mystic River
leicht verdutzt.
»Mr. Marcus«, sagte Whitey, »Sie haben einen großen Teil des Samstagnachmittags zusammen mit Ihrer Tochter im Laden verbracht. Stimmt das?«
»Ja und nein«, antwortete Jimmy. »Ich war meistens hinten. Katie war vorne an der Kasse.«
»Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hat sie sich anders verhalten? War sie angespannt? Verängstigt? Hat sie sich vielleicht mit einem Kunden gestritten?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich gebe Ihnen die Nummer unseres Mitarbeiters, der morgens mit ihr zusammengearbeitet hat. Vielleicht ist was passiert, bevor ich kam, an das er sich erinnert.«
»Das wäre nett, Sir. Aber während Sie da waren?«
»So wie immer. Sie wirkte glücklich. Vielleicht ein bisschen …«
»Was?«
»Ach, nichts.«
»Sir, die geringste Kleinigkeit kann jetzt von Bedeutung sein.«
Annabeth beugte sich vor. »Jimmy?«
Jimmy machte ein beschämtes Gesicht. »Es ist eigentlich nichts. Das war … Irgendwann guck ich von meinem Schreibtisch hoch und da steht sie in der Tür. Steht einfach da, trinkt eine Cola mit ‘nem Strohhalm und guckt mich an.«
»Guckt Sie an.«
»Ja. Und eine Sekunde lang sieht sie so aus wie damals, als sie fünf war und ich sie nur kurz im Auto lassen wollte, weil ich was aus der Drogerie holen wollte. Damals, ja?, da fing sie einfach an zu heulen, weil ich gerade aus dem Gefängnis gekommen und ihre Mutter gestorben war. Ich glaube, damals meinte sie jedes Mal, wenn ich sie allein ließ, wenn auch nur für eine Sekunde, dass ich nie mehr zurückkommen würde. Dann hatte sie diesen Blick drauf, ja? Ich meine, ob sie weinte oder nicht, sie hatte diesen Blick drauf, als würde sie damit rechnen, mich nie wiederzusehen.« Jimmy räusperte sich und stieß einen langen Seufzer aus, bei dem sich seine Augen weiteten. »Jedenfalls hatte ich diesen Blick schon seit ein paar Jahren nicht mehr an ihr gesehen, sieben, acht Jahre vielleicht, aber am Samstag guckte sie mich ein paar Sekunden lang so an.«
»Als würde sie damit rechnen, Sie nie wiederzusehen.«
»Ja.« Jimmy beobachtete, wie Whitey sich das notierte. »Hey, bauschen Sie das doch nicht so auf! Das war nur ein Blick.«
»Ich bausche überhaupt nichts auf, Mr. Marcus, versprochen. Das ist nur eine Information. Ich sammle nur Informationen, bis zwei oder drei Sachen zusammenpassen. Mehr tue ich nicht. Sie sagten, Sie waren im Gefängnis?«
»Mannomann!«, flüsterte Annabeth und schüttelte den Kopf.
Jimmy lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Da hätten wir’s.«
»Ich frag ja nur«, entgegnete Whitey.
»Würden Sie das auch tun, wenn ich erzählt hätte, dass ich vor fünfzehn Jahren bei Sears gearbeitet habe?«, schmunzelte Jimmy. »Ich hab für einen Überfall gesessen. Zwei Jahre in Deer Island. Notieren Sie sich das! Hilft Ihnen diese Information, den Kerl zu fassen, der meine Tochter umgebracht hat, Sergeant? Ich meine, ich frag ja nur.«
Whitey warf Sean einen Blick zu.
Sean sagte: »Jim, hier will niemand jemanden beleidigen. Machen wir weiter, kommen wir wieder zur Sache!«
»Zur Sache«, wiederholte Jimmy.
»Abgesehen von Katies Blick«, erkundigte sich Sean, »gab es noch irgendwas Außergewöhnliches, an das du dich erinnern kannst?«
Jimmy wandte seinen Häftlingsblick von Whitey ab und trank einen Schluck Kaffee. »Nein. Nichts. Warte – dieser Junge, Brendan Harris … Aber nein, das war ja heute Morgen.«
»Was ist mit ihm?«
»Das ist nur so ‘n Junge aus der Gegend. Er kam heute vorbei und fragte, ob Katie da wäre, als hätte er damit gerechnet, sie zu sehen. Aber sie kannten sich kaum. War nur ein bisschen komisch. Hat aber nichts zu bedeuten.«
Whitey schrieb sich den Namen trotzdem auf.
»Kann es sein, dass sie mit ihm ging?«, fragte Sean.
»Nein.«
»Das kann man nie wissen, Jim«, gab Annabeth zu bedenken.
»Ich weiß es«, sagte Jimmy. »Sie würde nicht mit diesem Jungen gehen.«
»Nein?«, fragte Sean.
»Nein.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Hey, Sean, was soll der Scheiß? Willst du mich in die Zange nehmen?«
»Ich nehm dich nicht in die Zange, Jim. Ich frage dich nur, warum du dir so sicher bist, dass deine Tochter nicht mit diesem Brendan Harris ging.«
Jimmy seufzte und sah zur Decke. »Ein Vater weiß so was. In Ordnung?«
Sean entschied, es damit im Moment bewenden zu lassen. Mit einem Nicken bedeutete er Whitey, mit der Vernehmung fortzufahren.
»Hm, wie steht’s überhaupt damit?«, fragte Whitey. »Mit wem war sie
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