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Mystic River

Titel: Mystic River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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dazwischen, »lass das bitte! Guck ihn nicht so an, als wäre ich nicht ganz dicht. Ich bin nicht verrückt. Ich hab keinen Schock.«
    »Gut, Jim.«
    »Ich will nur sagen, dass es Fäden gibt, ja? Fäden in unserem Leben. Wenn man an einem zieht, verändert sich auch alles andere. Wenn es zum Beispiel in Dallas geregnet hätte und Kennedy nicht mit einem Cabrio gefahren wäre. Wenn Stalin im Priesterseminar geblieben wäre. Wenn wir beide, Sean, damals mit Dave Boyle in dieses Auto gestiegen wären.«
    »Was?«, fragte Whitey. »Was für ‘n Auto?«
    Sean hob die Hand und sagte zu Jimmy: »Ich kann dir nicht folgen.«
    »Ehrlich nicht? Wenn wir in das Auto gestiegen wären, wäre unser Leben völlig anders verlaufen. Meine erste Frau Marita, Katies Mutter, die sah unglaublich gut aus. Sie war g ö ttlich. Du weißt schon, wie manche von diesen Latino-Frauen so sind, ja? Wunderschön. Und sie wusste es. Wenn man sie ansprechen wollte, musste man verdammt was auf dem Kasten haben. Das hatte ich. Mit sechzehn war ich der große Zampano. Hatte vor nichts Angst. Ich hab sie angesprochen und ich bin mit ihr ausgegangen. Und ein Jahr später – Mensch, da war ich siebzehn, noch ein Kind – haben wir geheiratet und sie war mit Katie schwanger.«
    Jimmy umkreiste langsam, aber stetig, den Körper seiner Tochter.
    »Was ich sagen will, Sean, ist Folgendes: Wenn wir damals in das Auto gestiegen wären, wenn wir weiß Gott wohin gefahren wären und diese beiden Arschficker vier Tage lang Gott weiß was mit uns gemacht hätten, als wir – wie alt? – elf waren? Dann wäre ich, glaube ich, mit sechzehn nicht so kackfrech gewesen. Ich glaube, dann hätte ich in einer Gummizelle gesessen, verstehst du, bis oben voll gepumpt mit Beruhigungsmitteln oder so. Ich weiß, dass ich niemals das besessen hätte, was ich brauchte, um mit einer so eingebildeten, schönen Frau wie Marita auszugehen. Und so hätten wir niemals Katie bekommen. Und dann wäre Katie nie umgebracht worden. Wurde sie aber. Und das alles, weil wir nicht in das Auto gestiegen sind, Sean. Verstehst du, was ich meine?«
    Jimmy schaute Sean an, als erwarte er eine Bestätigung, aber es war die Bestätigung eines Umstands, von dem Sean keine Ahnung hatte. Jimmy sah aus, als müsse ihm Absolution erteilt werden – dass er als Kind nicht in das Auto gestiegen war, dass er ein Kind gezeugt hatte, das ermordet werden sollte.
    Beim Joggen lief Sean manchmal zufällig die Gannon Street entlang und stand dann mitten auf der Straße an der Stelle, wo Jimmy, Dave Boyle und er sich geprügelt und plötzlich aufgeschaut hatten, weil dieses Auto auf sie zukam. Von Zeit zu Zeit hatte Sean noch den Geruch der Äpfel in der Nase, der aus dem Auto gestiegen war. Und wenn er den Kopf ganz schnell drehte, konnte er Dave Boyle auf der Rückbank sitzen sehen, während das Auto auf die Ecke zufuhr. Dave saß in der Falle und schaute zu ihnen zurück, dann entzog er sich ihren Blicken.
    Einmal hatte Sean – vor ungefähr zehn Jahren bei einem Saufgelage mit ein paar Freunden, bei dem ihm der Bourbon zu Kopf gestiegen war und ihn zu philosophischen Betrachtungen verleitet hatte –, die Idee gehabt, dass sie vielleicht tatsächlich eingestiegen waren. Alle drei. Und was sie jetzt für ihr Leben hielten, war nur ein Traum. Dass alle drei in Wirklichkeit immer noch elfjährige, in einem Keller gefangene Jungen waren, die sich vorstellten, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie geflohen und älter geworden wären.
    Das Komische war, dass diese Idee, die Sean für eine heftige Folge der durchzechten Nacht gehalten hatte, in seinem Kopf hängen geblieben war wie ein Steinchen in einer Schuhsohle.
    Und so stand er gelegentlich auf der Gannon Street vor dem alten Haus seiner Eltern und erhaschte aus dem Augenwinkel einen Blick auf den sich entfernenden Dave Boyle, nahm den Geruch von Äpfeln wahr und dachte: Nein, komm zurück.
    Er sah Jimmys flehenden Blick. Er wollte etwas sagen. Er wollte Jimmy sagen, dass auch er darüber nachgedacht hatte, was passiert wäre, wenn sie in das Auto gestiegen wären. Dass der Gedanke, wie sein Leben geworden wäre, ihn manchmal quälte, am Rande seines Bewusstseins lauerte, sich vom Winde tragen ließ wie das Echo eines aus dem Fenster gerufenen Namens. Er wollte Jimmy sagen, dass er manchmal schweißnass aus diesem Traum aufwachte, dem Traum, in dem die Straße nach seinen Füßen griff und ihn auf die offene Wagentür zuschob. Er wollte Jimmy sagen, dass er

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