Mystic River
und oft fragte sie sich, ob er sich ihrer überhaupt bewusst war, ob er seine Macht als die Last empfand, die sie sicherlich war, besonders in einem Moment wie diesem.
»Was ist?«, fragte Annabeth und wandte den Blick nicht von den Speckscheiben ab, die in einer schwarzen Pfanne vor sich hin brutzelten.
»Brauchst du was?«, fragte Jimmy. »Ich kann mich auch ein bisschen an den Herd stellen, wenn du willst.«
Annabeth schenkte dem Herd ein kurzes, schwaches Lächeln und schüttelte den Kopf. »Nein, schon gut.«
Jimmy sah Celeste an, als wolle er sagen: »Stimmt das?«
Celeste nickte. »Wir haben hier alles im Griff, Jim.«
Jimmy schaute zu seiner Frau hinüber und Celeste erkannte einen unglaublich zärtlichen Schmerz in seinem Blick. Sie fühlte, wie sich ein weiterer tränengroßer Splitter aus Jimmys Herz löste. Er beugte sich vor, streckte die Hand aus und wischte mit dem Zeigefinger eine Schweißperle von Annabeths Wangenknochen. »Lass das!«, wies ihn Annabeth zurecht.
»Guck mich an!«, flüsterte Jimmy.
Celeste hatte das Gefühl, die Küche verlassen zu müssen, fürchtete aber, eine Bewegung von ihr würde etwas zwischen ihrer Cousine und Jimmy zerbrechen, etwas sehr Zartes.
»Kann ich nicht«, entgegnete Annabeth. »Jimmy, wenn ich dich angucke, dann ist es vorbei mit mir, und ich kann mich nicht gehen lassen, wo die ganzen Leute hier sind. Bitte!«
Jimmy lehnte sich zurück. »Schon gut, Liebling. Schon gut.«
Mit gesenktem Kopf flüsterte Annabeth: »Ich will einfach nicht noch mal durchdrehen.«
»Verstehe ich.«
Einen Augenblick hatte Celeste das Gefühl, die beiden ständen nackt vor ihr, als erlebe sie etwas zwischen einem Mann und seiner Frau, das genauso intim war, als würden sie sich vor ihren Augen lieben.
Dann ging die Tür am anderen Ende des Flurs auf und Annabeths Vater, Theo Savage, kam herein, stapfte mit einem Kasten Bier auf jeder Schulter durch den Flur. Er war ein Baum von einem Mann, ein rotgesichtiger Kodiakbär mit Hängebacken und einer seltsam tänzerischen Eleganz, so wie er sich mit den Bierkästen auf den kantigen Schultern durch den engen Flur schob. Celeste staunte immer ein bisschen, dass so ein Berg so viel verkrüppelten männlichen Nachwuchs gezeugt hatte – Kevin und Chuck waren die einzigen Söhne, die etwas von seiner Größe und Statur abbekommen hatten, und Annabeth die Einzige, die seine Anmut geerbt hatte.
»Nach dir, Jim«, sagte Theo, aber Jimmy machte einen Schritt zur Seite, so dass Theo ihm elegant auswich und in die Küche trat. Er ließ seine Lippen und ein zartes »Alles klar, Süße?« über Celestes Wangen streichen, dann stellte er beide Kästen auf den Küchentisch und schlang die Arme um den Bauch seiner Tochter, drückte sein Kinn in ihre Schulter.
»Schaffst du’s, mein Schatz?«
»Ich versuch’s, Dad«, erwiderte Annabeth.
Er küsste sie in den Nacken – »Tolles Mädchen!« –, dann wandte er sich an Jimmy. »Wenn du ein paar Kühlboxen hast, können wir das Bier reinstellen.«
Sie füllten die Kühlboxen neben der Vorratskammer und Celeste ging zurück in die Küche, um die ganzen Speisen auszupacken, die Verwandte und Bekannte heute Morgen mitgebracht hatten. Es war so viel: irisches Sodabrot, Pasteten, Croissants, Muffins, Blätterteiggebäck und drei verschiedene Sorten Kartoffelsalat, Tüten voller Brötchen, Teller mit Aufschnitt, kleine Frikadellen in einem riesigen Topf, zwei gekochte Hinterschinken und ein Ungetüm von Truthahn unter zerknitterter Alufolie. Eigentlich gab es für Annabeth keinen Grund zu kochen – das wussten alle –, aber sie verstanden auch, dass sie nicht anders konnte. Und so bereitete sie Schinken und Würstchen und zwei große Pfannen Rührei zu und Celeste stellte das Essen auf den Tisch, der gegen die Wand des Esszimmers gerückt worden war. Sie fragte sich, ob all die Gerichte ein Versuch waren, die Angehörigen der Toten zu trösten, oder ob sie hofften, ihre Trauer irgendwie hinunterzuschlingen, sich an ihr voll zu fressen und sie mit Cola, Alkohol, Tee und Kaffee hinunterzuspülen, bis alle abgefüllt und aufgebläht waren und sich hinlegen mussten. Das machte man bei Zusammenkünften mit traurigem Anlass – bei der Totenwache, bei der Beerdigung, bei Gedenkgottesdiensten und an Tagen wie diesem: Man aß, trank und redete, bis man nicht mehr essen, trinken oder reden konnte.
Sie sah Dave im Wohnzimmer bei den anderen Gästen. Er saß neben Kevin Savage auf der Couch, die beiden
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