Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
46 Grad, ein Phänomen, welches zweifellos in direktem Zusammenhang mit dem stand, was ihr heute Abend widerfahren war. Rita grinste, als sie daran dachte, dass sie ein wissenschaftliches Wunder war, denn ihres Wissens hatte noch kein Mensch mit einer solchen Körpertemperatur überlebt, geschweige denn sich wohl gefühlt!
Zudem dachte sie immerzu an diesen seltsamen Mann.
Wie hatte er ausgesehen? Sie konnte sich noch gut an seine Gestalt erinnern. Etwa einsfünfundachzig groß, wenn sie das metrische System zugrunde legte , und ein athletischer Körperbau. War er ein gut aussehender Mann? Seine Stimme war warm, herzlich und beruhigend gewesen. Sein deutscher Akzent hatte irgendwie niedlich geklungen.
Sobald sie an den Fremden dachte, pochte ihr Herz. Hatte sie sich in den Fremden verliebt? Die Symptome schienen eindeutig. Wie hatte das geschehen können? Sie war kein Teenie mehr. Sie war eine erwachsene Frau, die soeben eine deprimierende Beziehung hinter sich hatte und in keiner Weise gewillt war, sich erneut überstürzt zu verlieben. Nein, danke!
Sie lag auf dem Rücken und starrte zur Zimmerdecke hoch.
Endlich schlief sie ein.
Der Raum war warm und d as , obwohl seine Wände, seine Decke und sein Boden aus Eis waren. Aber so war das wohl in Träumen ...
Man fror nicht, auch nicht im Herz des Eises!
Fackeln tauchten das Traumbild in rote Schimmer, die unheimlich und gleichermaßen warm wirkten. Rita kauerte auf den Knien , und ihre Handflächen lagen auf dem Eis, ohne dass sie unter ihren Fingerspitzen Kälte empfand. Alles war still und völlig geräuschlos. Rita stand auf und tastete sich an den Wänden entlang, während ihre Fingerkuppen das glatte Eis erforschten. Erst jetzt entdeckte sie, dass der Raum weder Ecken hatte noch einen Ausgang, er war rund und konisch geformt und lief nach oben hin spitz zu. Sie war gefangen im Bauch gefrorenen Wassers.
Über ihr materialisierte sich eine rote Wolke, die auf Rita hinabschwebte.
Von überall her wisperten Stimmen. Zuerst waren die Worte nicht zu begreifen , Buchstaben, die aneinandergereiht wurden zu Lautfetzen, dann formten sich die Fragmente zu Sätzen, seltsam deutlich und intensiv. Rita! Wir warten auf dich! Komme zu uns! Du bist unsere Freundin!
Die Wolke veränderte ihre Form, wehte auseinander, pulsierte und wurde zu einer roten Kutte. Eine Kapuze verbarg das darunter liegende Gesicht. Eine angenehme Stimme sagte: Nun gehörst du zu uns! Zögere nicht! Wir werden dich mit offenen Armen empfangen!
»Ja - ich weiß! Ich gehöre zu Euch«, flüsterte Rita. Glückseligkeit durchströmte sie. Tränen rannen über ihre Wangen. »Ist er auch da? Der Mann, der mich heilte?«
Ist das wichtig?
»Ich liebe ihn! Ich muss ihn finden. Ich möchte bei ihm sein.«
Dann wird er hier sein, Freundin!
So schnell, wie es begonnen hatte, war es zu Ende. Die Gestalt in der roten Kutte verpuffte wie ein Geist. Frustriert rief Rita: »Warum redet ihr erst mit mir, um m ich dann doch alleine zu lassen ? Bin ich nicht gut genug für Euch? Ich möchte nicht alleine sein.«
Du bist nicht alleine ..., wisperten die Stimmen von irgendwoher. Du wirst nie wieder alleine sein!
Tränen der Dankbarkeit liefen über Ritas Wangen.
Sie würde nie wieder einsam sein. Auf dieses Versprechen hatte sie ihr Leben lang gewartet.
Sie würde Peter vergessen, würde ihr schlechtes Elternhaus vergessen, den Kummer, den das Leben ihr angetan hatte und die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren waren. Bisher war ihr noch nicht klar geworden, wie sie unter all dem gelitten hatte. Eigentlich hatte sie sich stets als die Summe ihrer Erfahrungen gesehen und war damit zufrieden gewesen. Das war ein Fehler. Sie wollte nicht nur zufrieden, sondern glücklich sein! Nicht mehr und nicht weniger.
Endlich hatte sie wahre Freunde gefunden! Freunde, auf die sie sich verlassen konnte. Gemeinsam mit ihren Freunden würde sie ein neues Leben beginnen, ein Leben, das wie ein Traum sein würde.
Von den Wänden der Eisgrotte tropfte Wasser, als weine das Eis.
Der Mann in der roten Kutte hob seine Hand. Diese einfache Geste genügte, um die Anwesenden verstummen zu lassen.
»Ihr habt versagt. Anstatt ihn zu ergreifen, seid Ihr hinter einem Reh oder einem Hirsch hergejagt! Das ist lächerlich. Ihr seid Versager! Wie konnte er ganz woanders sein, wenn seine Fußabdrücke im Schnee endeten? Glaubt Ihr, er sei weggeflogen? Vermutlich hockte er über Euch in einem Baum und lachte Euch aus.«
Zwei
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