Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
kahler Schädel. Das Gesicht des Mannes wurde dominiert von großen , dunklen Augen, einer mächtigen Nase und Lippen, die denen einer erotischen Frau in nichts nachstanden. Die Mundwinkel lächelten, aber die Augen glitzerten ebenso kalt wie das Eis der Grotte.
»Oh, großer Dragus, Herr der Oberen . Alles ist bereit für d eine Ansprache. Alles ist bereit für die Zeremonie.«
»Himmel noch mal - was soll der Blödsinn?«, säuselte der große Dragus. »Steh’ auf, verdammt noch mal! Du bist meine rechte Hand und es steht dir nicht an, dich wie ein Schleimpilz aufzuführen.«
Licitus erhob sich und strich sich den Stoff mit den Handflächen glatt. Er verbarg sein Gesicht noch immer im Schatten der Kapuze.
»Sieh mich an, Licitus«, sagte der große Dragus mit süßlicher S timme. »Ich fühle deinen Hass. Ich fühl e deine Missgunst. Keine Sorge, ic h bin dir dennoch wohl gesonnen. Du bist, wie du bist. Irgendwann, mein Freund , wird deine Gelegenheit kommen und du wirst an meine Stelle treten. Solange übe dich in Geduld und absolviere noch einige Kommuns! Auch wenn du denkst, du seiest klar, zweifele ich das an.« Er lachte kurz, zwinkerte mit den Augen und fuhr fort: »U nd übe dich in der Gabe der Mens chlichkeit. Denke immer daran, wir wollen, dass sie uns folgen, die Menschen! Wir wollen sie überzeugen. Das gelingt uns nur mit Liebe. Was später wird, wissen nur wir, nicht wahr? So ist es eben in der Politik. Das Volk gilt es zu gewinnen - dafür musst du besonders melodisch auf deiner Flöte blasen. Nur so werden sie dir folgen.« Dragus seufzte und drehte sich um. Er nahm Platz auf Licitus’ Stuhl, griff dahinter und wog den Kristall in den Händen. »Er repräsentiert unsere Macht. Dieser Kristall - geschlagen aus dem ewigen Eis. Würdige ihn und denke daran ... ohne ihn sind wir nichts wert. Ohne ihn würden wir versagen. Versuche dich in Demut, Licitus, schöpfe Kraft daraus und sei mein guter Stellvertreter.« Er ließ den Kristall hinter den Tisch verschwinden , und sein Kopf schnellte hoch. Der versonnene Gesichtsausdruck änderte sich in Sekundenbruchteilen. »Was ist mit Peter Steinert? Habt ihr ihn? Kann er uns noch schaden?«
»Wir haben unseren besten Mann auf ihn angesetzt.«
»Pah! Erinnere dich, Licitus. Er war es, der dir deinen Platz hätte streitig machen können. Was immer auch in Peter gefahren ist, es ist dein Glück, das er uns verließ. Er war einer der ganz besonders Auserwählten. Ein flammendes Talent , ein wahrer Rattenfänger! Er ist der Einzige, der unserer Sache gefährlich werden kann.«
»Wir werden ihn vernichten, bevor er Dir, großer Dragus, schaden kann!«
»Das will ich hoffen«, troff die Stimme des großen Dragus vor Eiseskälte. »Du weißt , ich mag keine Überraschungen. Ich erwarte gute Arbeit von dir. Dann sollst du reich belohnt werden, anderenfalls ...« Er schnippte mit seinen Fingern.
Licitus krümmte sich stöhnend. Sein Raubvogelgesicht schob sich aus der Kapuze hervor. Seine Haut war schneeweiß , seine Augen traten aus den Höhlen , und er schnappte nach Luft wie ein sterbender Karpfen.
Der große Dragus schnippte erneut. Er schüttelte väterlich seinen Kopf. »Das ist der Grund, wa rum ich dir wohl gesonnen bin. «
Licitus, der sich erholte, wusste, was der große Dragus damit meinte. Er war nicht mehr als ein Wurm im Gegensatz zu seinem Meister, ein Wurm, mit dem man Mitleid hatte. Und auch Mit leid war eine Form der Liebe.
Rita überlegte fieberhaft, was sie gegen den Mann ausrichten konnte. Sollte sie schreien? Es bestand i mmerhin eine, wenn auch geringe Möglichkeit, dass jemand sie hörte. Es war kurz nach zwei Uhr, und die meisten Menschen im Hotel würden schlafen. Wer kümmerte sich da schon um einen Hilferuf, der von irgendwoher weit entfernt die Träume störte?
»Verhalten Sie sich ruhig, Mädchen«, zischte der düstere Eindringling, als habe er Ritas Gedanken gelesen.
»Nennen Sie mich nicht Mädchen «, sagte Rita in einer sinnlosen Aufwallung von Trotz.
Der Eindringling reagierte nicht, was ihn noch unheimlicher machte, als er es sowieso schon war.
Was, dachte Rita, wäre geschehen, wenn die Kirchturmuhr sie nicht geweckt hätte? Wäre sie im Schlaf umgebracht worden? Und falls ja, warum?
Zu ihrem eigenen Erstaunen betrachtete sie die gefährliche Situation mit nüchternem Kalkül. Sie schob sich vorsichtig aus der Hocke an der Wand hoch. Der Mann in der Kutte hinderte sie nicht daran, vielmehr beobachtete er
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