Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
weiter. Zwar waren auch Decke und Wände der Grabkammer nicht mehr gewölbt und in sich unwirklich verschoben, aber Linda entging nicht, dass sich über dem Eingang eine Felsscheibe löste. Sie donnerte auf den glatten Boden. Über ihr klaffte ein fingerbreiter Riss und zog sich spinnwebgleich mehrfach verzweigt in Richtung Ausgang. Es war nur noch eine Frage der Zeit und die Grabkammer würde zusammenbrechen, zumindest der Eingang.
Warum war sie noch immer alleine?
Zwischenzeitig hätten mindestens eine oder zwei weitere Reisegruppen hier reinkommen müssen, geführt von einem wild gestikulierenden arabischen Reiseführer. Noch immer hatte sie das Gefühl, weit über der Realität zu schweben, als träume sie und sei noch nicht erwacht. Sie erwartete, jeden Moment gekniffen und geweckt zu werden
Es polterte markerschütternd, als sich ein weiterer Brocken von der Decke löste.
Mit zwei Sprüngen war Linda um den Sarkophag herum und mit weiteren drei Sprüngen beim Ausgang. Sie bückte sich und ließ die Grabkammer hinter sich. Sie befand sich in der - wie sie nachgelesen hatte – sogenannten Opferhalle. Auch hier waren die Wände vor zweitausend Jahren mit Zeichnungen verziert worden. Die Halle wurde von breiten Pfeilern gestützt. Linda war, als drücke eine gewaltige Hand sie nach vorne, als der Eingang hinter ihr mit ohrenbetäubendem Gebrüll zusammenbrach.
Einige Sekunden früher, und sie wäre in der Grabkammer eingeschlossen gewesen. Sie lehnte sich an die kalte Wand, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Dicker Staub legte sich über die Opferhalle.
Was zum Teufel ging hier vor? Warum hört denn niemand da oben, was hier unten geschah? Ihr gesunder Menschenverstand revoltierte. Was geschehen war, war nicht wirklich möglich gewesen. Massiver, alter Fels brach nicht einfach so zusammen.
Es stand außer Zweifel: Man hatte ihr eine Warnung zukommen lassen, die lautete: Sei vorsichtig! Wenn wir wollen, haben wir noch ganz andere Überraschungen auf Lager!
Linda stieß sich von der Wand ab und taumelte verwirrt durch die Halle. Der schräg in Richtung Oberfläche verlaufende Gang verhieß Sicherheit. Linda hastete der Sonne und der Hitze entgegen. Der Gang wand und schlängelte sich. Sie stockte. Waren das Schritte hinter ihr? Oder handelte es sich bei diesem tapsenden Geräusch nur um weitere, von der Decke tropfende, Steine? Sie verharrte und drehte sich um.
Hinter der Biegung des Gangs flackerte ein Schatten auf, so, als habe man schnell eine Laterne entzündet und wieder ausgeblasen. Das war unmöglich. Moderne Neonröhren spendeten Licht.
Einen Moment lang haderte Linda mit sich. Dann siegte ihre Neugier. Schritt für Schritt schlich sie zurück. Dabei drückte sie sich eng an die Wand. Die in die Wand gemeißelten Reliefs drückten in ihre Schulter. Vorsichtig spähte sie um die Biegung.
Tatsächlich flackerten im sich perspektivisch verengenden Gang nur noch wenige Lampen. Sie zischelten und sprühten Funken. Und inmitten des Chaos ragte ein Schatten auf. Beine, ein Rumpf und Arme. Jemand kam auf Linda zugelaufen. Jemand, der außerdem noch dort unten gewesen war. Die ganze Zeit, gemeinsam mit ihr.
»Hallo, Sie!«, rief Linda.
Derjenige stolperte und fing sich wieder. Seine Schritte waren unsicher, als käme ihr ein Kind entgegen, das noch nicht richtig laufen gelernt hatte. Ein zwei Meter großes Kind.
Linda lief ihm entgegen, obwohl alles in ihr schrie, sie solle abhauen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Tapsend stolperte die Gestalt voran und war nicht mehr als zehn Meter von Linda entfernt.
»Sind Sie verletzt?«, fragte sie zaghaft.
Die Gestalt keuchte ... und trat ins Licht.
Für eine Sekunde setzte Lindas Herz aus. Sie sprang zurück und prallte an die gegenüberliegende Felswand. Es war ein Menschenkörper, der sich ihr näherte und nun vor ihr stand.
»Keine Angst haben ... keine Angst«, kollerte es aus seiner Brust.
Es war ein Menschenkörper, der seine in glitzernde Gewänder gekleideten Arme ausbreitete, als wolle er Linda umarmen.
»Möchte ... helfen! Möchte ... helfen!«
Auf dem Körper nickte stetig zuckend der Kopf eines Vogels.
Linda schloss die Augen und schrie.
Als sie erwachte, hatte man ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn gelegt.
Brad beugte sich über sie. Seine blauen Augen schimmerten besorgt. Sie lag auf einer Holzbank, stützte sich auf die Ellenbogen und richtete sich auf. Verdattert sah sie sich um. Wie war sie hierher gekommen?
»Mom,
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