Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
Spuk damit auflösen.
Sie war stets eine mutige Frau gewesen. Warum also sollte sie weglaufen? Immerhin war sie an einem Ort, der Tag für Tag von tausend Touristen bestaunt wurde. Hier gab es nur Stein und einen Pharaonensarg.
Nein! Hier gab es noch mehr.
Dieser Ort verwandelte sich in eine märchenhafte Stätte, die bezaubernd und Furcht einflößend gleichermaßen war. Die Stimmen hauchten in einer ihr fremden Sprache. Sie flüsterten und sprangen von Wand zu Wand wie kleine Bälle. Es war eine Mischung aus dumpfem Murmeln und raschelnden Blättern im Wind. Obwohl Linda kein Wort verstand, kam es ihr vor, als wolle sich irgendwer oder irgendetwas mit ihr in Verbindung setzen.
Das Glitzern an den Wänden verlosch wie eine Kerze, als habe man einen Knopf gedrückt, der die seltsamen Bilder ausschaltete.
Es war still.
Linda rieb sich über ihre Augen.
Es musste der abrupte Wechsel von der höllischen Hitze draußen zur angenehm trockenen Kühle hier drinnen gewesen sein. Ihre Fantasie hatte ihr etwas vorgegaukelt.
Sie stand auf. Die Decke in der Grabkammer war so niedrig, dass sie ihren Kopf sachte einziehen musste. Sie trat zwei Schritte vor.
Alles war still.
Nichts und niemand waren zu hören.
Wie konnte das sein?
Sie war mit einer Reisegruppe hierher gekommen. Außerdem trieben sich hier noch viele andere Touristen herum. Allen voran die gestikulierenden Fremdenführer.
Und doch war es totenstill.
Sie trat vor den Sarkophag und legte ihre Handflächen auf den kühlen Stein. Sie hatte keine Ahnung, warum sie das tat. Eigentlich war das Gefühl des Unheimlichen größer, und sie wollte diese Stätte so schnell wie möglich verlassen. Und doch war der Magnet des Befremdlichen stärker.
Sie meinte Stimmen zu hören, und verstand die in Englisch gesprochenen Worte, die dennoch nicht Englisch waren, sondern eine Sprache, so fremd und alt wie die Welt.
Du bist auserwählt!
Erschrocken zog sie ihre Finger zurück. Unter ihnen hatte es sanft vibriert. Es war, als lebe der Sarg, als sende er feine Stromstöße aus. Diese seltsame Sache war nicht dazu angetan, Lindas Furcht zu verringern. Doch noch immer war sie nicht bereit, die Kammer zu verlassen.
Du bist wichtig! Du bist IHRE Mutter!
Ich muss zurück zu Grace!, sagte sie sich. Es wurde Zeit. Grace wartete!
Erneut legte sie ihre Hände auf den Stein. Sie konnte nicht davon lassen, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte. Es war nur toter Stein. Nichts sonst. Auch die Stimmen schwiegen. Stattdessen materialisierte sich über dem Sarg ein milchiges Licht. Es nebelte und glitzerte wie Millionen Glühwürmchen. Als wolle sich das Licht zu etwas formen, schwebte es auf und ab. Noch immer hielt Linda ihre Handflächen fest auf den Sarg gedrückt. Sie konnte ihren Blick nicht von diesem erschreckenden Bild lösen. Die Wände der Grabkammer beugten sich wie lebendig zu Linda herab.
Sie hatte so etwas schon gesehen, und zwar in Filmen, die ihr nicht behagten. Filme, in denen sich Hände und Gesichter aus Wänden bohrten, Filme, die gemacht worden waren, um die Zuschauer zu erschrecken und ihnen den Schlaf zu rauben. Selbstverständlich war alles nur mit Spezialeffekten gemacht. Am Computer oder mit Modellen. Bernard hatte bei solchen Filmen gelacht und gesagt, sie solle sich nicht fürchten. Blut sei Ketchup und die Fratzen seien Kunstwerke der Modelltechnik. Dies hatte Linda nie beruhigt. Horrorfilme ängstigten sie - Ketchup hin oder her.
Und nun erlebte sie genau das.
Wände, die sich bewegten und Lichter, die aufblitzten. Ein feines Knirschen lief durch den Felsen. Linda hörte die Stimme und verstand, was hohl und dumpf aus dem Nichts gesprochen wurde:
Nun ist es Zeit. Gehe! Gehe schnell - oder wir werden dich hier bei uns begraben! Gehe! Es ist die letzte Gelegenheit für dich. Noch streiten wir uns mit Mamothma! Noch ist er nicht bereit. Doch bald, bald …
Was um alles in der Welt bedeutete das?
Das milchige Licht formte sich zu einer wesensartigen Gestalt. Es richtete sich auf und floss unter der Decke der Grabkammer entlang, wie eine Trickfilm-Regenwolke.
Linda ahnte, dass es sie einhüllen würde. Wenn es sie erst einmal umfangen hatte, würde sie nicht mehr flüchten können. Dann war es zu spät!
Er ist ganz nahe! Siehst du ihn? Es ist Mamothma! Flüchte, solange du noch kannst! Du bist IHRE Mutter! Du bist auserwählt!
Was würde geschehen, wenn das Licht sie einhüllte? Würde sie in das Reich der Pharaonen gezogen werden? Würde
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