Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
Tage.«
»Sagen Sie mir nur, wo ich ein Taxi finden kann.«
Silim lachte hart. »Um diese Zeit? Hier? Unmöglich. Jedes Auto ist in der Stadt. Dort finden Sie ein Taxi. Der Fußmarsch dahin beträgt mehr als eine Meile.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Für einen Augenblick brandete Wut in Linda hoch. Dieser Mann begutachtete sie, als sei sie ein zum Verkauf ausgestelltes Dromedar , eine Milchziege oder ein Huhn. »Sie würden gut zahlen?«
»Selbstverständlich«, nickte Linda. Mit siedendem Schrecken erinnerte sie sich, ihre Geldbörse an Bord der Karnak Dream gelassen zu haben. Mit zwei Handgriffen löste sie ihre Armbanduhr vom Handgelenk. »Diese Uhr ist mehr als eintausend Dollar wert.«
In Silims Augen trat ein verräterischer Glanz. Linda fröstelte es. Dieser Mann redete ihre Sprache, war also nicht ungebildet, dennoch wirkte er auch verschlagen. War sie überempfindlich? Egal! Warum sollte sie mehr als einen Gedanken daran vergeuden? Sie musste zu Grace! Nur das zählte. Also ließ sie ihre Uhr in die Handfläche fallen. »Diese Uhr gebe ich demjenigen, der mich zum Tal bringt. Ich habe es eilig. Ich muss dort jemanden treffen, der sehr wichtig für mich ist.«
Es dauerte fünf Minuten und sie saß hinter den Ägypter auf dem Moped. Der kalte Wind hüllte sie ein und Staub drang ihr in Mund und Nase.
20
Mamothma tanzte.
Er wirbelte umher und herum. Züngelnde Flämmchen sprossen aus seinem Körper. Er war ein brennender Derwisch, die Arme hoch, der Kopf im Nacken. Die Maske reflektierte die roten Zungen und strahlte im Widerschein seiner Kraft.
Er tanzte und lachte.
Er schien glücklich. Er verharrte und schwebte dorthin, wo sie lag. Er breitete seine Hände aus und fuhr beschwörend über ihren schmalen jungen Leib.
Ich bin Sephrete! Aber ich bin auch jemand, der nicht Sephrete heißt!
Dies war ihr in den letzten Minuten deutlich geworden. Die Bilder einer fremden Erinnerung waren immer klarer geworden, so als wische man den Schmutz von einer nebeligen Fensterscheibe, als wasche man einen Spiegel mit Seifenlauge. Zuerst hatte sie sich gegen die Bilder gewehrt.
Diese Frau, die an ihrer Schulter weinte. Dieser Mann, den sie ... Daddy ? nannte. Dann die Trauer, als Daddy nicht mehr bei ihr war. D er nette Junge ... Stan war sein Name, einer, in den sie sich verliebt hatte ... und ein Zimmer, dessen Wände mit Bildern von Jungen tapeziert waren, Jungen, die allesamt hübsch aussahen ...
... und so viele Bilder mehr. So unendlich viele Bilder mehr.
Bilder einer anderen Realität. Der von Grace.
Sie war Sephrete!
Sie war Spielball in einem Albtraum, den sie schon einmal geträumt hatte, vor wenigen Stunden erst. Sie hatte auf einem Stein gehockt. Die Sonne hatte heiß gebrannt. Mom war in einer Grabkammer gewesen.
In dieser Grabkammer?
Ich bin Sephrete , und ich löse meine Schuld ein!
Und ich bin Grace , und ich war auf der Toilette auf einem Nilschiff. Und dann war da dieser Nebel, der meine Gedanken umfasste und mich hinweg trug und mich vor Glück weinen ließ. Ich landete hier auf diesem Stein. Auf diesem ...
OPFERTISCH!
Was macht man auf einem Opfertisch? Man opfert! Man tötet!
MAMOTHMA WIRD MICH TÖTEN! ER WIRD MICH TÖTEN, WEIL ER DENKT, ICH SEI SEPHRETE! ER WIRD MICH TÖTEN, WEIL ER DURCH MICH DIE MACHT ÜBER DIE WELT ZU ERLANGEN GLAUBT!
Grace bäumte sich auf.
Sie starrte in die Goldmaske. Es schien, als beugten sich die Felswände zu ihr herab.
Ich bin nicht Sephrete!
ICH BIN GRACE WAYNE!
Die Umklammerung der Illusion löste sich. Die jählings aufflammende Angst war entsetzlich. Sie begriff , was mit ihr geschehen würde. Der Schock war so groß, dass sie keinen Ton über die Lippen brachte.
21
Die Fahrt hatte fast zwei Stunden gedauert. Zwei Stunden, die Linda vorgekommen waren wie Tage, wie Wochen. Sie klammerte sich an Silim . Ihr Körper war eiskalt. Ihre Muskeln waren verkrampft. Sie hatte Rückenschmerzen , und sie hasste dieses scheppernde schnaufende Moped. Zwischen ihren Zähnen knirschte Sand , und ihre Augen brannten vor Staub und Müdigkeit. Endlich hielt Silim das Moped an. Er wies nach rechts. »Da ist es.« Unter Linda tuckerte der Motor. Hölzern glitt sie vom Sitz. Sie taumelte und fing sich wieder. Sie reckte sich. Das tat gut. Leben kehrte in ihren Leib zurück. Pulsierendes Blut, das sie wärmte.
Silim hielt ihr fordernd seine Handfläche entgegen.
Traurig nahm Linda Abschied von der Uhr. Bernard hatte
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