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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Gesicht dem rauen Nordwestwind zugewandt, der vom Lawton Mountain blies, wo noch Winter herrschte und die Bäume noch keine Knospen trugen. Sie starrte in den zinnfarbenen Himmel, der mit einem Streifen purpurroter, ovaler Wolken tätowiert war.
    Normalerweise redete die schlanke Brünette gern, gestikulierte lebhaft, war schlagfertig und rechthaberisch. Jetzt stand sie stumm da und stemmte die verkrampften Hände in die Taschen der grauen Wolljacke, die sie über ihrem Jeanskleid, den Kniestrümpfen und blauen Wollclogs trug. Sie blickte verständnislos vor sich hin, nun schon einige Minuten, seit Andie Nightingale ihr die Nachricht überbracht hatte, dass die Leiche ihres Mannes im Bluekill River gefunden worden sei.
    Schließlich brach Paula ihr Schweigen. »Linsenförmige Wolken«, sagte sie.
    »Wie bitte?«, fragte Andie Nightingale.
    »Diese kleinen Purpurwolken nennt man linsenförmig«, erklärte Paula. »Hank war ein Wetterfreak. Vermont und die Jagden, wissen Sie? Er sagte immer, linsenförmige Wolken entstehen durch Turbulenzen hoch oben in der Atmosphäre. Linsenförmige Wolken sind wie Omen, die einen Sturm ankündigen. Aber der Sturm ist doch längst da, nicht wahr?«
    Bei diesen letzten Worten verlor sie den letzten Rest Selbstbeherrschung. Angesichts der Unbegreiflichkeit ihres Verlustes fiel ihr der Kiefer herunter, und sie versuchte, ihren Mund mit der rechten Hand zu bedecken, während sie schon mit weitaufgerissenen Augen über den unebenen Boden der Scheune taumelte. Andie Nightingale packte die Frau und zog sie an sich. Über Paulas bebende Schulter hinweg beobachtete sie, wie die linsenförmigen Wolken einen Bogen am Horizont bildeten.
    Jetzt donnerte ein roter Jeep die Einfahrt herauf und hielt unter den kahlen Ästen einer verwitterten Ulme, die den Vorgarten der Potters beherrschte. Eine ältere Version von Paula stieg aus. Ellen LaVacque lief mit aschgrauem Gesicht auf ihre Schwester zu.
    Zehn Minuten später sagte Paula: »Ich muss reingehen und es den Jungs sagen.«
    »Das wird schwer werden«, meinte Ellen. »Sie denken bestimmt, die Welt geht unter.«
    »Das lasse ich nicht zu«, sagte Paula resolut. »Er wird immer bei uns sein. Nicht wahr?«
    Die Frage hing so lange in der Luft, dass Andie Nightingale zusammenzuckte. »Paula, ich muss dir ein paar schwierige Fragen stellen.«
    Paula schniefte, nickte aber. »Das habe ich mir gedacht.«
    »Hatte Hank irgendwelche Feinde?«
    »Feinde!?«, rief Ellen aus.
    »Er hatte keine Feinde«, sagte Paula mit fester Stimme. Dann stockte sie und begann zu schluchzen. »Soviel ich weiß, jedenfalls.«
    Andie Nightingale holte tief Luft. »Paula, tut mir leid, dass ich dich das fragen muss, aber hast du jemals den Verdacht gehabt, dass er ein Doppelleben führen könnte?«
    »Nein, nie!«, schrie Paula.
    Ihre Schwester mischte sich aufgebracht ein. »Hank war der fleißigste, treueste Mann, den ich je kennengelernt habe.«
    Nach ihrem Ausbruch herrschte ein Moment Stille. Paula zerknüllte ihr Taschentuch in der Hand, dann fragte sie: »Was für eine Art Doppelleben denn?«
    »Finanziell, sexuell, emotional, alles, was man sich vorstellen kann«, meinte Andie Nightingale.
    Paula sah ihre Schwester an und schüttelte dann den Kopf. »Wenn er nicht in seiner Praxis war, dann arbeitete er entweder im Garten, spielte mit unseren Söhnen oder ging jagen oder fischen.«
    Andie Nightingale nickte. »Was hat Hank denn heute Morgen routinemäßig gemacht?«
    »Er ist nach seinem Plan vorgegangen«, sagte Paula. »Er hatte immer einen Jagdplan, wo er hingehen wollte und was er als Erstes am Morgen tun würde.«
    »Und heute Morgen?«
    »Bei dem schlechten Wetter hatte er beschlossen, hier in der Nähe am Lawton Mountain auf der anderen Seite des Flusses zu jagen«, antwortete sie und machte eine unbestimmte Handbewegung Richtung Westen.
    »Okay«, sagte Andie Nightingale aufmunternd. »Abgesehen von seinem Plan, was hat er als Erstes heute Morgen gemacht?«
    Paula überlegte einen Augenblick und sagte dann:
    »Um halb vier aufgestanden. Lange Unterwäsche und dicke Socken angezogen. Dann direkt hier zu seiner Jagdkammer rausgegangen. Seine Kleidung genommen, die Truthahnweste, das Gewehr, die Köder und seinen Rucksack. Wenn er den Fluss überqueren wollte, hat er immer den kleinen Steg benutzt, den er im letzten Herbst repariert hat. Der ist da unten im Wald hinter dem Obstgarten.«
    Andie Nightingale blickte über das Feld zum Wald. Die glänzenden, schwarzen

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