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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Potters drängte sich in Gallaghers Gedanken, als er oben in der Hütte sein Bett machte und sein Angelzeug ordnete. Es bedrängte ihn, während er versuchte, ein offizielles Geburtstagsmahl mit gekaufter Forelle zu seinem Vierzigsten zuzubereiten.
    Warum Potter und nicht ich?, fragte sich Gallagher und sah zu, wie die Butter in der Pfanne schmolz. Welche Kräftekonstellation hatte bestimmt, dass dieser Tag sein letzter sein sollte, während mein Leben weitergeht? Und dann stellte sich Gallagher die Frage, der er schon den ganzen Tag auszuweichen suchte: Aufgrund welcher Kräftekonstellation hatte seine Frau ihn verlassen, war er nun vierzig und allein?
    Mechanisch bereitete er die Forelle zu und aß sie, jedoch ohne Genuss. Um irgendetwas zu tun, sah er sich die Stiche mit der Indianerin über der Höhle und dem in Trance versunkenen Albinomedium Caleb Danby noch einmal an. Da war etwas in seiner schlaffen Haltung, das Gallagher an seinen Vater erinnerte.
    Seamus Gallagher war in Brooklyn zur Welt gekommen und aufgewachsen, als Sohn eines trunksüchtigen Steinmetzes und gläubigen Katholiken, der sein Leben damit verbrachte, religiöse Statuen für die Kirchen im Nordosten der Vereinigten Staaten zu fertigen. Aus Gründen, die Gallagher nie ganz verstanden hatte, lehnte sein Vater, als er ein Teenager geworden war, Gott und seines Vaters Steinmetzgewerbe völlig ab. Seamus besuchte abends das »City College of New York« und machte mit siebenundzwanzig an der Fordham University sein Examen als Jurist. Mit dreißig war er ein gefragter Anwalt für Arbeitsrecht und aktives Mitglied bei der »American Communist Labour Union« und der Amerikanischen Kommunistischen Partei. Gallaghers Vater war ein stämmiger Mann mit einem borstigen, graumelierten Bart, einem spiegelglatten, kahlen Kopf und durchdringenden Augen hinter Brillengläsern aus schwarzem Kunststoff.
    Er lernte Gallaghers Mutter, Agnes Flanagan, im Jahre 1958 auf einer Party des
Progressive Magazine
kennen. Agnes war eine der besten Autorinnen des Blattes, eine dünne, streng wirkende Frau mit einem schmalen Gesicht, Kettenraucherin und Verfasserin eleganter, scharfer Essays gegen das kapitalistische Establishment. In ihr, so glaubte Gallagher, hatte sein Vater die Personifizierung der wichtigsten Stützen seines Lebens gefunden: linke Ideale und Alkohol.
    Bei ihrer ersten Verabredung fuhren sie nach Coney Island, ließen einen Drachen steigen und tranken sich am Strand ordentlich einen an. Neun Monate später kam Gallagher zur Welt. »Ein Versehen infolge von zu viel Sonne und zu viel Wodka«, so pflegte sein Vater Gallagher zu beschreiben, wenn er eine seiner düsteren Stimmungen hatte, die immer mehr zunahmen, je älter Gallagher wurde.
    Seamus blieb abends nur selten zu Hause, war fast immer in einer Versammlung oder Besprechung, bei der er den Vorsitz hatte und an die sich ein längerer Aufenthalt in der nächsten Kneipe anschloss. Er bezeichnete sich als militanten Atheisten, und als Gallagher acht Jahre alt war, fungierte sein Vater als Anwalt und Sprecher einer Gruppe, die erfolgreich gegen die New Yorker Schulbehörde klagte und durchsetzte, dass das Gebet im Klassenzimmer verboten wurde.
    Am Tag nach der entscheidenden Gerichtsverhandlung wurde Gallagher, als er die Rutschbahn auf dem Schulhof heruntergeglitten war, von einer Gruppe Kinder umringt, die ihn mit: »Du rotes Schwein! Du gottloser Scheißkerl!« beschimpften.
    Gallagher sah den Stein nicht, der ihn am Kopf traf.
    Ohne Erinnerung an die drei Tage, die er im Koma verbracht hatte, wachte er wieder auf. Als Seamus ihn im Krankenhaus besuchte, fragte Gallagher ihn als Erstes nach Gott.
    »Den gibt es nicht, Patrick«, erwiderte Seamus kalt. Er nahm die Brille ab, um sie an seinem Hemdsärmel zu putzen. Wie immer roch sein Atem leicht nach Alkohol.
    »Woher weißt du das?«, fragte Gallagher.
    »Das hat man im Gefühl oder auch nicht«, antwortete sein Vater. »Ich fühle nichts, also glaube ich auch an nichts. Und du solltest das auch nicht tun.«
    »Aber was passiert dann, wenn wir sterben?«
    »Nichts«, sagte Gallaghers Vater. »Dann ist einfach nur Schluss.«
    »Und sonst nichts?«, hatte Gallagher nachgebohrt. »Wir kommen nicht irgendwohin, in den Himmel oder so?«
    »Himmel«, schnaubte der Vater. »Hör zu, wir tauchen aus dem Dunkel auf und sinken wieder ins Dunkel zurück.«
     
    Gallagher wuchs in einem typischen Backsteinbau in Brooklyn auf. Dort kam niemals genug Licht durch die

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