Mystic
Stämme der Tannen sahen gegen das vergilbte, tote, hohe Gras des Obstgartens wie Tusche aus, die sich über feines Briefpapier ergossen hat.
Die kahlen Apfelbäume im Vordergrund glichen den verbogenen Drahtgestellen alter Regenschirme, von denen der Wintersturm den Stoff abgerissen hat.
»Geh und red mit deinen Jungs«, sagte Andie Nightingale zu Paula. »Es tut mir so leid für sie.«
Auf ihrer Suche nach Spuren bahnte sich Andie Nightingale einen Weg durch das hohe Gras des Obstgartens zum Tannenwäldchen hin. Mit jedem Schritt wurde das Tosen des Flusses ohrenbetäubender. Und mit jedem Schritt erhob sich der Lawton Mountain drohender und riesiger über ihr.
In dem dämmrigen Licht unter den Tannen stieß sie auf eine Hose aus Tarnstoff, die zu der Jacke passte, mit der Hank Potter gefunden worden war. In einem Himbeerstrauch entdeckte sie ein Paar hohe Gummistiefel. Mit der Taschenlampe suchte sie nach Spuren in dem weichen, nassen Boden. Doch Sturm und Regen hatten alles abgewaschen.
An dem steilen Ufer, das zum Steg hinunterführte, erkannte sie kleine Vertiefungen im Schlamm, die nahelegten, dass hier Absätze den Abhang hinuntergeglitten waren. Doch fand sie keine deutlichen Fußabdrücke, die bestätigt hätten, dass Potter oder sein Angreifer hier vor Tagesanbruch entlanggegangen waren.
Die Brückenpfeiler aus dickem, verwittertem Stahl waren in eine Granitplatte fünf Meter über dem Fluss getrieben. Neue, zwei Zoll starke Stahlseile waren daran befestigt und über den zehn Meter breiten Abgrund gespannt worden. An diesen waren Planken mit U-Bolzen festgemacht. Geländer aus Strick verliefen parallel zu den Stahlseilen.
Andie Nightingale trat auf die Brücke über dem rauschenden Wasser. Die Brücke schwankte im Wind, und sie musste nach den Stricken greifen, um das Gleichgewicht zu halten. In der Mitte der Brücke waren die Schwankungen am stärksten; dort blieb sie stehen und warf einen Blick in die Tiefe. Schwarze Strudel drehten sich, und messerscharfe Felsen zerschnitten die Wasseroberfläche. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als sie eine dunkle Verfärbung auf den Holzplanken nahe dem gegenüberliegenden Ufer entdeckte.
Blut. Und noch mehr Blut auf dem Geländer aus Stricken und Blutspritzer auf den herausragenden Felsen unter der Brücke. Wenn es sein Blut war, dann hatte man Hank Potter auf der Brücke über dem Bluekill River umgebracht.
Andie Nightingale lief die Böschung hinauf, durch das Tannenwäldchen und in den Obstgarten hinaus, der jetzt in der Abenddämmerung lag. Sie hörte einen Schrei. Eine Tür schlug, und ein strohblonder Junge von ungefähr acht Jahren rannte blindlings über den Hof und kletterte, so schnell er konnte, auf der Leiter hoch, die an eine Kiefer genagelt war und zu einem Baumhaus führte. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen, und ihr leerer Magen machte sich bemerkbar.
Paula Potter trat aus dem Haus und hielt nach dem Jungen Ausschau. Andie Nightingale ging zu ihr. »Paula, ich muss dich bitten, mit deinen beiden Söhnen zu Ellen zu gehen«, sagte sie. »Ich will die Kollegen von der Spurensicherung verständigen.«
Paula sah sie verständnislos an. »Hast du was gefunden?«
»Genug, um Unterstützung zu holen.«
»Oh«, sagte sie und knetete ihre Hände. »Ich … Ich war auf der Suche nach Nathan, meinem Ältesten.«
Nightingale deutete auf das Baumhaus. »Er sitzt dort oben. Entschuldige, aber bevor du zu ihm gehst, kannst du mir die Jagdkammer zeigen, die du erwähnt hast?«
Paula sah vom Baumhaus zu Andie und nickte dann unsicher.
Der Wind frischte wieder auf, als sie zum Hühnerstall hinübergingen, und sie stemmten sich ihm schweigend entgegen. Im Stall ging Paula direkt auf die mit zwei Vorhängeschlössern versehene Tür zu. »Wie seltsam«, bemerkte sie, während sie nach den Schlössern griff, die offen in den Ösen hingen. »Hank würde niemals –«
Andie Nightingale fasste Paula am Handgelenk. »Nicht berühren.«
Sie holte dünne Latexhandschuhe hervor und nahm dann vorsichtig die Schlösser aus den Ösen. Dann schaltete sie das Licht an und öffnete die Tür.
Die kleine Kammer roch nach Zedernholz, sie hatte die Größe eines begehbaren Wandschranks. Auf der rechten Seite, gleich bei der Tür, waren in verschiedener Höhe Haken für Jagdkleidung angebracht. Daneben befand sich ein eingebauter Gewehrschrank mit Glastür und Platz für acht Waffen, in dem drei Büchsen mit Zielfernrohr, ein Kleinkalibergewehr, ein
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