Mystic
das ein griechischer, römischer, sumerischer Mythos oder was?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie nicht mehr haben.«
Nightingale zögerte einen Augenblick, griff dann in ihren Regenmantel und holte eine mit einem Reißverschluss verschlossene Beweismitteltasche hervor. Sie streifte sich dünne Latexhandschuhe über, zog eine Zeichnung aus der Tasche und legte sie unter die Gaslampe auf den Küchentisch. Gallagher sah sich die Gestalt, das Boot und den Fluss aus der Nähe an und spürte, wie ihm die Knie weich wurden. »Das Rot, ist das …?«
»Ja.«
»Von dem Mann, den ich gefunden habe?«
»Das nehme ich an«, sagte sie. »Wir werden Tests machen lassen.«
In der Vergangenheit hatte die Nähe des Todes Gallagher fast immer in einen Lähmungszustand versetzt; trotz seiner jahrelangen Forschungen und Filmarbeiten über andere Religionen und Kulturen hatte er keine klaren Indizien gefunden, um seines Vaters Unglauben in Bezug auf Gott und ein Leben nach dem Tode widerlegen zu können. Die Angst vor der Endgültigkeit des Todes saß sehr tief bei ihm.
Aber er ließ sich auf dem Holzstuhl nieder und betrachtete diesen Bestandteil eines bösartigen Verbrechens mit beinahe so etwas wie Ehrfurcht. Das männliche Wesen, das das Boot ruderte – mit seinem Schnabel und den Tierohren, den Schlangenhaaren und dem zugenähten Mund –, kam ihm irgendwie bekannt vor, doch so verfremdet, dass er seine Bedeutung nicht sofort einordnen konnte.
»Weshalb sind Sie so sicher, dass dies aus einem Mythos stammt?«
»Weil der Mörder das sagt«, antwortete Andie Nightingale und drehte die Zeichnung um. »Nicht berühren.«
Gallagher nickte unsicher, als er begriff, dass sie ihn immer noch beobachtete. Er drehte das Gas der Lampe über dem Tisch weiter auf, doch das Glas des Stiches mit der Indianerin an der Wand reflektierte das Licht so stark, dass er es wieder kleiner stellen musste, um die Schrift gut entziffern zu können. Sein Mund wurde trocken, als er die Worte las, die mit der gleichen schwarzen Tinte niedergeschrieben waren, mit der man die Zeichnung des rudernden Wesens angefertigt hatte.
Im Mythos ist das Wasser des Flusses tief und blutrot. Ich bin der taube, stumme und blinde Fährmann ans andere Ufer gewesen. Ich habe deinen Hass gespürt, Lawton, seit dem Tag meiner Geburt. Ich habe deinen Verrat gerochen und geschmeckt. Du hast gestohlen, was uns gehörte. Du hast mich dazu verdammt, die goldene Münze zu nehmen. Du hast mich dazu verdammt zu fühlen, wie der hölzerne Bug gegen das schlammige Ufer mit den schwarzen Pappeln stößt, und niemals die Felder dahinter kennenzulernen. Lawton, ich werde dein Lotse zur Hölle sein. Doch nur der Fährmann wird vom anderen Ufer zurückkehren.
Draußen steigerte sich der Wind zu einem heulenden Sturm. Die Tür flog auf, und nasses Laub wehte herein. Nightingale stemmte ihre Schulter gegen die Tür und schloss sie, während Gallagher die Notiz immer wieder las. In dem Jahr nach Emilys Weggang war er trübsinnig gewesen, träge, ohne jedes Interesse. Nun war sein Geist entflammt, während er über die Worte und die Zeichnung nachdachte. Der Schnabel, das Boot, der Fährmann, die Goldmünze. Er erkannte plötzlich einen Zusammenhang.
»Charun«, sagte Gallagher erregt.
Andie Nightingale setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber.
»Wer?«
Er buchstabierte den Namen: »C-H-A-R-U-N. Er kommt in den Unterweltmythen verschiedener alter Kulturen vor. Die Etrusker glaubten, er sei der männliche Dämon, der die Toten in das Jenseits geleitete. Charun trug diese Züge« – er deutete auf den Schnabel, die spitzen Ohren, die blinden Augen und den zugenähten Mund –, »aber er ruderte kein Boot. Er trug einen Hammer oder eine Axt, wenn ich mich recht erinnere. Das maritime Element taucht erst bei den Griechen auf, wo er zu Charon wird: C-H-A-R-O-N.«
»Und wer ist das?«, fragte Andie Nightingale, ganz offensichtlich verwirrt.
»Der Fährmann, der die Toten über den Acheron, den Fluss der Traurigkeit, rudert«, antwortete Gallagher und sah wieder auf den Text. »Er musste mit einer Goldmünze bezahlt werden, die den Toten auf den Mund gelegt wurde. Das andere Ufer des Acheron war angeblich mit schwarzen Pappeln bewachsen, durch die sich die Toten allein ihren Weg suchen mussten, bis sie das Jenseits erreichten.«
Nightingale schüttelte den Kopf und versuchte, das alles zu begreifen. Er konnte förmlich sehen, wie ihre Gedanken in
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