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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Fenster oder von den Lampen, um das Halbdunkel in den Ecken zu besiegen. Seine freundlichsten Erinnerungen an seine Mutter waren die, in denen er sie in ihrem kleinen Arbeitszimmer neben dem Wohnzimmer sah, wo sie mit zwei Fingern auf ihrer alten Smith Corona hämmerte und nebenbei Mentholzigaretten rauchte und an einer Bloody Mary nippte.
    Agnes war keine besonders liebevolle Mutter. Das heißt nicht, dass sie Gallagher vernachlässigte oder gar körperlich misshandelte. Das tat sie nie. Doch nahm sie ihn kaum einmal in den Arm oder küsste ihn, es sei denn, sie war betrunken. Und wie die meisten Kinder von Alkoholikern lernte Gallagher bald, wie leer die durch Alkohol hervorgerufenen Gefühle sind.
    Immerhin weckte Agnes in Gallagher die Leidenschaft für Bücher. Sie brachte ihm das Lesen bei, als er vier Jahre alt war – zum Teil, so glaubte er, um ihn zu beschäftigen, während sie arbeitete. Wie dem auch sei, Bücher wurden Gallaghers Zuflucht vor der Kälte, in der er aufwuchs.
    Als Gallagher vierzehn wurde, hatte die Trinkerei seinen Vater völlig zerstört. Es gab keinen einzelnen dramatischen Vorfall, der Seamus’ Niedergang beschleunigt hätte, nur eine stetige Häufung von Rückschlägen – zweimal Gefängnis während Antikriegsdemonstrationen, eine Reihe verlorener Fälle, Ärger mit der Regierung –, die Krisen auslösten, die neue Rückschläge nach sich zogen und immer so weiter in einer großen abwärtsführenden Spirale.
    Eines Nachmittags, als Gallagher fünfzehn war, bestieg er nach einem Ausflug seiner Klasse ins Naturkundemuseum die U-Bahn von Manhattan nach Brooklyn. Es war einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen. Die Klasse hatte einen Vortrag von einem der Kuratoren über die Masken des Dogon-Stammes in Mali in Westafrika gehört. Der Kurator hatte über den Glauben der Dogon gesprochen, dass Menschen und Tiere gleichermaßen eine Seelensubstanz besitzen, die Nyama genannt wird und die nach dem Tode in einer Maske zurückkehrt wie der über einen Meter lange hölzerne Vogelkopf, den er für alle sichtbar in die Höhe hielt. Die Masken konnten benutzt werden, um die Seelen von Toten zu vertreiben, die den Lebenden unter Umständen Leid zufügten.
    Gallagher war aus dem Vortrag gegangen, fasziniert von der Vorstellung, dass die Naturvölker überall auf der Welt Erklärungen dafür hatten, warum wir existieren und was nach unserem Tod kommt. An jenem Tag hatte er beschlossen, Anthropologie zu studieren.
    Aber als er mit seinen Klassenkameraden und seinem Lehrer den U-Bahn-Wagen betrat, entdeckte er zu seinem Entsetzen seinen Vater, der völlig betrunken auf einem der Sitze hing. Seamus sang leise gegen das Fenster und hob dann den Finger zu seinem eigenen Spiegelbild, wobei er einen Satz aus seinem Schlussplädoyer im Schulgebetsfall zitierte. Mehrere Klassenkameraden von Gallagher, die Seamus nicht erkannten, begannen zu kichern und Witze über den verrückten Betrunkenen zu machen. Seamus drehte den Kopf, und seine Augen richteten sich auf alle, bevor sie an seinem Sohn hängenblieben. Gallagher wandte sich von seinem Vater ab, tat so, als erkenne er ihn auch nicht, und lachte laut mit den anderen.
     
    Eine Woche später kam Gallagher aus der Schule nach Hause und fand die Haustür unverschlossen. Die Vorhänge waren zugezogen, und es brannte kein Licht. Die Heizung war abgestellt. Seamus hatte es gern kalt im Haus.
    Agnes hatte Gallagher am Abend zuvor gesagt, sie würde diesen Tag, an dem sie Redaktionsschluss hatte, im Büro zubringen. Er ging durchs Haus, zog die Vorhänge auf und knipste eine Lampe nach der anderen an, bis er in die Küche kam. Sie sah noch genauso aus wie am Morgen, bevor er in die Schule ging – übersät mit Partymüll: Aschenbecher voller Zigarettenkippen, halb ausgetrunkene Gläser, leere Flaschen.
    Gallagher wusch die Gläser ab, leerte die Aschenbecher und warf die Bier- und Wodkaflaschen in den Mülleimer. Er brauchte ungefähr vierzig Minuten für dieses liebgewonnene Ritual. Dann schüttete er den übrig gebliebenen Wodka ins Spülbecken, damit seine Eltern wenigstens den Gang zum Laden an der Ecke auf sich nehmen mussten. Das war der tägliche Akt seiner Rebellion.
    Als er mit allem fertig war, ging er nach oben, um seine Hausaufgaben zu machen. Im Vorbeigehen warf er einen Blick nach links ins Schlafzimmer seiner Eltern.
    Seamus hing an einem Strick, den er um eines der Heizungsrohre geschlungen hatte. Er hinterließ keine Zeile.
     
    Es gab

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