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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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gemacht.«
    »Einmal angenommen, sie war es, wo ist sie dann in jener Nacht hingegangen? In den Wald?«
    »Sie war ja so schwach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das getan hat«, meinte Andie. »Außer … außer, sie hatte tatsächlich Angst.«
    Gallagher versuchte es sich vorzustellen: die alte Dame, die auf ihren Stock gestützt durch den Tunnel in den Stall hinübergeht, um ihre Stiefel und ihren Regenmantel zu holen; die dann, mit der Katze auf dem Arm, durch das hohe Gras der Wiese stolpert, wo sie von dem verfilzten –
    Er schnippte mit den Fingern. »Okay, sie hatte Angst. Nehmen wir an, sie kommt auf die Wiese, stolpert und fällt. Und als sie fällt, verliert sie das Kruzifix. Wenn sie den Beutel so gehalten hat wie du, dann …«
    Andie fiel der Unterkiefer herunter. »Als sie stürzte, hatte sie ihren Teil des Tagebuchs bei sich! Sie wollte ihn verstecken!«
    »Die Frage ist nur, wo?«
    Andie stemmte die Fingerspitzen auf die Tischplatte und starrte auf die Holzmaserung wie ein Hellseher in die Glaskugel. Dann sprang sie vom Stuhl auf. Sie ging durch eine Tür, man hörte es rumoren, und dann kam sie mit kniehohen Gummistiefeln und einer mächtigen Taschenlampe wieder heraus. Ihr Kinn wirkte entschlossen, und ihre Augen blitzten erwartungsvoll. »Hol deine Sachen. Wir wollen mal nachsehen, ob die Bären noch in ihren Höhlen sind.«

17
    Mittwoch, 14 . Mai
    In den letzten schwarzen Stunden dieser Nacht frischte der Wind auf, der einem Tiefdruckgebiet folgte, das zum Golf von Maine zog. Der Mond trat hervor, verschwand, um gleich wieder zwischen den rasch dahinziehenden Wolken aufzutauchen. Der Regen hatte die Erde aufquellen lassen, und jetzt lag der Geruch nach modernder Fäulnis über dem Waldboden. Totes Laub raschelte auf den Buchenzweigen an der verlassenen Holzfällerschneise, die über einen gefährlichen Steilhang zum Gipfel des Lawton Mountain hinaufführte.
    Es war fast halb fünf Uhr morgens, als Andie und Gallagher sich mit der Taschenlampe durch die Zweige emporkämpften. Sie kamen durch einen verwilderten Obstgarten, bevor sie eine Reihe von Vorsprüngen erklommen, auf denen Hickory-Bäume auf fahlen Grasflächen wuchsen. Nach einer Stunde Anstieg traten sie aus einem Kiefernwäldchen auf eine Wiese voller Wacholderbüsche hinaus.
    Sie sprachen nicht, während sie bergan kletterten. Und der scharfe, harzige Geruch in der Dunkelheit erinnerte Gallagher an eine Gruppe von Kindern und Eltern, die an einem engen Bergpfad im Libanon Ziegen hüteten. Als er jetzt hier den Berg erklomm, sah er sich und Emily in der Sonne des späten Nachmittags auf einem Vorsprung über dem Pfad hocken, wo sie den Duft der Zedern einatmeten und auf Beirut und das Meer hinunterblickten.
    Emily hatte ihre Füße mit den Sandalen bis an den Saum ihrer Khakishorts hochgezogen. Die Red-Sox-Baseballmütze saß verkehrt herum auf ihrem Kopf, und sie sah sehr müde aus. Seit beinahe zwei Jahren waren sie zusammen unterwegs, als Mann und Frau, als Liebende und Partner. Gallagher machte die Recherchen und schrieb zusammen mit Jerry die Texte. Emily war ihre Kamerafrau geworden. Indien, Tokio, Tansania und nun der Libanon. Gallagher war schon früher in Beirut gewesen, als er an der Artikelserie über Kinder in Kriegsgebieten schrieb, für die er den Pulitzerpreis bekommen hatte. Nun, zehn Jahre später, waren sie zurückgekehrt, um dieselben Kinder wieder aufzuspüren und einen Dokumentarfilm darüber zu drehen, was aus ihnen geworden war.
    »Ich möchte Kinder haben«, verkündete Emily plötzlich und unvermittelt.
    Die Sonne verschwand hinter dem Berg, und ihr Felsvorsprung wurde in Schatten getaucht. Gallagher sah zu den kleinen Jungen und Mädchen hinunter, die den Bergpfad hinabliefen, und wurde von unerklärlicher Angst erfüllt. »Mir gefällt unser Leben so, wie es ist«, antwortete er.
    »Mir auch«, sagte Emily und zupfte an ihrem Pullover. »Aber ab und zu fühle ich mich ein bisschen leer. Wir sind Voyeure, Pat. Wir sehen zu, wie andere Leute ihr Leben führen.«
    »Ich fühle mich nicht leer«, sagte er. »Ich habe ja dich.«
    Emily kuschelte sich an ihn. Ihre gebräunte Haut hob sich stark gegen den weißen Pullover ab. Als die Ziegenhirten hinter dem Hang verschwanden, sagte Emily: »Es ist halt so ein Gefühl, das ich ab und zu habe.«
     
    Andie knipste ihre Taschenlampe an und leuchtete nach oben, damit Gallagher nicht gegen einen überhängenden Zweig lief. Im Schein der Lampe sah ihr Gesicht

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