Mystic
nickte und gab sie Gallagher. Er rollte sie in seiner Hand. Sie wurden schnell warm, und er spürte wieder das seltsame Kribbeln, das schon die Haarlocke aus Andies Beutel verursacht hatte. Er ließ sie in Olgas Beutel zurückfallen und richtete dann den Lichtstrahl auf die Papiere, die jetzt auseinandergefaltet auf Andies Knien lagen.
»29. Dezember 1891 ?«, las Andie vor. »Dieser Teil wurde fast zwei Jahre vor meinem geschrieben. Und sieh mal, man kann die eingerissenen Ränder sehen, wo die Seiten aus irgendeinem Buch gerissen wurden.«
Das Licht flackerte. Sie rückten näher zusammen, um gemeinsam lesen zu können. Dabei musste Gallagher unwillkürlich an Emily denken, wie sie im tantrischen Tempel ihren Sarong fallen ließ, doch brachte ihn der leichte Geruch nach Wodka in Andies Atem schnell wieder zu der umständlichen Handschrift auf dem vergilbten Pergament zurück.
29 . Dezember 1891
Miss Mary Parker hat mir an der Missionsschule in Standing Rock Lesen und Schreiben beigebracht. Sie sagte: Sarah, das Schreiben wird dich frei machen. Manche von unseren Leuten in Standing Rock sahen es nicht gern, dass ich die Sprache der Weißen las und schrieb.
Doch Sitting Bull, Painted Horses’ Bruder, meinte, es sei gut, wenn ich das Talent dazu hätte, auch wenn ich ein Mädchen sei. Wenn ich die weiße Sprache spräche, könnte ich vielleicht meinem Volke helfen, wieder frei zu werden, sagte er.
Ich weiß nicht so genau, was Freiheit ist. Sitting Bull sprach immer von dem freien Leben, das er am Grand River geführt hatte, als er jung war, vom Büffel und von den Hirschen und dem Adler. Er sprach zu uns von den Donnerwesen, die auf den Felsen hoch oben in den Black Hills lebten und über uns wachten. Doch heute glaube ich, dass ein Sioux nur frei sein kann, wenn er stirbt oder wenn er den Geistertanz tanzt.
Gallagher warf Andie einen Blick zu. »Daher kenne ich den Satz über den ›Großvater‹ aus deinem Teil des Tagebuchs. Er stammt aus dem Geistertanz.«
»Geistertanz?« Ihr Gesicht schien im Schein der Taschenlampe zu glühen.
»Nach dem Krieg in den Black Hills, als Crazy Horse getötet wurde und die letzten Indianer in die Reservate mussten, gab es einen Schamanen vom Volk der Paiute in Nevada namens Wovoka, der eine Vision hatte, in der ihm der Große Geist einen Geistertanz zeigte, mit dem alle Weißen aus Amerika vertrieben werden könnten, die toten Krieger zu neuem Leben erweckt und die Büffelherden zurückgebracht würden. Dieses Ritual war eine seltsame Mischung aus indianischer Tradition und Christentum – mit seiner messianischen Symbolik –, und es breitete sich wie ein Steppenbrand aus, vor allem unter den Sioux. Sitting Bull wurde deshalb umgebracht.«
»Und sie sagt ja, sie sei Sitting Bulls Nichte.«
»Höchst bemerkenswert«, nickte Gallagher.
Mehr als dreißig von uns wanderten in sechs Tagen zum Lager von Big Foot am Cherry Creek, nachdem sie Sitting Bull wegen des Tanzes umgebracht hatten. Dann machten seine und unsere Gruppe sich gemeinsam auf den Weg nach Pine Ridge, um den Schutz von Red Cloud zu suchen.
Einige von uns gingen zu Fuß, einige ritten auf Pferden, manche fuhren auch auf Wagen. Big Foot behielt uns unten am Fluss, damit die Soldaten uns nicht sahen. Der Himmel wurde eisblau und blieb drei Tage lang so. Tag und Nacht zogen wir nach Süden. Big Foot lag krank in einem der Planwagen. Sein Husten klang wie eine rostige Säge, die durch einen grünen Baum gezogen wird.
Am dritten Morgen nach Weihnachten, Miss Parkers Lieblingstag, hielten unsere Wagen. Painted Horses flüsterte, da sei Kavallerie unten an dem Flüsschen, das Wounded Knee genannt werde, in der Nähe von Red Clouds Lager, und wir müssten uns auf die Flucht vorbereiten. Vier Krieger stiegen den Hang hinab, das Morgenlicht ließ die Erde glühen wie einen Kupferpenny. Sie trugen eine weiße Fahne und kamen mit einem Arzt zurück, der sagte, Big Foot habe Keuchhusten.
Bei Sonnenuntergang hatten wir unser Lager aufgeschlagen, und die Soldaten beobachteten uns auf drei Seiten von den Felsen über uns. Ich ging mit Painted Horses in die Schlucht, um Holz für das Feuer zu sammeln. Ein Soldat mit schwarzen Zähnen und mit Haaren, die aussahen wie in Büffelfett getauchte Lederstreifen, fragte mich, ob ich mit ihm an den Fluss hinuntergehen wollte. Ich rannte davon, so schnell ich konnte.
Acht Soldaten und sechs von Big Foots Leuten bewachten den Häuptling. Painted Horses und ich mussten uns um ihn
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