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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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›Großvater‹ kam in den Liedern vor, die die Sioux zu jener Zeit sangen. Wakan Tanka, der Große Geist, wird ab und zu auch Großvater genannt. Sie ist eine Sioux, stimmt’s?«
    Andie nickte. Ihr Haar war schweißnass und hing ihr ins Gesicht. Sie strich es zurück.
    »Jetzt möchte ich auch ein paar Antworten haben«, sagte er. »Wenn das Tagebuch und die Kreuze mit den Morden zu tun haben, warum haben Sie dann Lieutenant Bowman nichts davon gesagt? Weshalb halten Sie Beweismittel zurück?«
    Andie stierte Gallagher hasserfüllt an, hob die Pistole wieder und zielte auf sein Gesicht. In ihren Augen blitzte Wahnsinn auf, und er glaubte, er würde sich jeden Augenblick in die Hose machen. Beruhige sie, dachte er. Beruhige sie, so wie du es immer bei Seamus gemacht hast, wenn er seine Tiraden losließ.
    »Reg dich jetzt nicht auf, Andie«, fuhr er in einem sanften, ruhigen Ton fort. »Du hast sicher deine Gründe gehabt. Was dich aber viel mehr bedrückt, ist, dass du wieder mit dem Trinken angefangen hast, stimmt’s?«
    Ihr Griff um die Waffe wurde fester, und ihr Zeigefinger legte sich auf den Abzug.
    Gallagher schluckte, redete aber weiter. »Du fühlst dich schuldig und bist wütend, und du hast Angst, dass du bald wieder ganz an der Flasche hängst, ist es nicht so?«
    Eine ganze Weile herrschte Stille, dann entspannte sich ihr Zeigefinger. »Ja«, flüsterte sie niedergeschlagen.
    »Es ist nur ein Ausrutscher, nur ein einziges Mal. Du musst nicht wieder ganz nach unten, wenn du es nicht willst.«
    Sie nahm eine Hand von der Waffe. »Ich habe mich so bemüht.«
    »Die beste Methode, nicht wieder in das Loch zu fallen, ist Reden, oder?«
    Sie nickte.
    »Warum hast du Lieutenant Bowman nichts von der Kette erzählt?«
    Langsam sank die Pistole zur Seite. Sie fiel ermattet auf einen Küchenstuhl, ein Vogel mit gebrochenem Flügel, und sagte: »Weil ich meiner Mutter versprochen habe, es geheim zu halten. Und als ich das Kruzifix dort im Schlamm liegen sah, da dachte ich: Olga hat also auch ein Stück von dem Tagebuch gehabt. Und dann hast du Charuns Brief gefunden … und …«
    Andies Blick glitt zur Wodkaflasche hinüber, dann stützte sie den Kopf in die Hände und fing an zu schluchzen. Gallagher stand auf, nahm mit einem Griff die Flasche vom Tisch und ging zum Spülbecken, wo er sie mit einer leider vertrauten Bewegung ausleerte.
    »Erzähl doch mal von Anfang an«, sagte er dann, während er einen Wasserkessel füllte und auf den Herd setzte.
    Sie schniefte, nickte und sah abwesend zur Decke empor, als sähe sie dort im hellen Putz einen Film ablaufen. Knapp drei Jahre zuvor war Andies Mutter von der Leiter gefallen und hatte sich den Oberschenkel gebrochen. Grace Nightingale lag neun Stunden auf dem Küchenboden, bevor ihre Tochter von der Arbeit nach Hause kam und sie fand. Die Sterbeurkunde besagte, dass Grace an einer Lungenentzündung gestorben war, die sie sich nach der Operation an ihrem gebrochenen Bein zugezogen hatte. Grace litt furchtbare Schmerzen, als sie starb, stöhnte unablässig, warf sich unruhig hin und her und fiel immer wieder in tiefe Bewusstlosigkeit.
    Um zwei Uhr morgens setzte sie sich kerzengerade im Bett auf und ergriff Andies Arm mit furchteinflößender Kraft. Sie wies ihre Tochter an, sofort nach Hause zu fahren, einen lockeren Ziegel am Kamin im Keller zu suchen und ihr zu bringen, was sie dahinter fände. Andie versuchte, ihre Mutter zu beruhigen, doch das machte die alte Frau nur noch verzweifelter.
    »Geh jetzt gleich, Andie, bitte«, hatte sie gebettelt. »Ich wollte nie, dass du es bekommst, aber jetzt gibt es niemand anders mehr. Du musst sofort hinfahren.«
    Allein und mitten in der Nacht fand Andie den Lederbeutel im Kamin. Sie hielt die Haarlocke in der Hand. Sie las, was Gallagher auch später lesen sollte.
    »Ich hatte meine Mutter immer für eine ehrliche, einfache Frau gehalten, die mehr als genug Tragisches in ihrem Leben erfahren hatte«, sagte Andie. »Als ich das Bündel im Kamin versteckt fand, da war mir auf einmal, als hätte sie ein Doppelleben geführt, als kennte ich sie plötzlich gar nicht mehr.«
    Gallagher schaufelte mit dem Löffel Kaffeepulver in einen Kaffeezubereiter. Der Wasserkessel pfiff, und er goss das kochende Wasser in den Glasbehälter. Dann füllte er zwei Kaffeebecher und reichte ihr einen davon. Ihre Hände zitterten und weckten in ihm Erinnerungen an seine Eltern, wenn sie beim Frühstück ihren Kater pflegten. Er schluckte und

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