Mystic
schoss ihm zweimal zwischen die Beine und ließ ihn schreiend zurück.
Von der Höhe des Felsens sah ich, wie von Westen ein Blizzard aufzog. Alle gefrorenen Leichen unseres Volkes lagen gekrümmt tief unter mir, wie verbrannte Äxte, die in den Schnee geworfen worden waren.
Ich wandte mich um und ging mit dem Pferd des Soldaten nach Osten. Ich sang Todeslieder, während mich der Sturm einholte.
18
»Die arme Frau«, murmelte Andie zum zwanzigsten Mal, während sie zusammen den Berg hinabstiegen. »Die arme, arme Frau.«
Stundenlang waren sie jetzt schon im Wald unterwegs, schlammbespritzt und benommen vor Müdigkeit. Gallagher konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Der Regen hatte zwar nachgelassen, aber der Waldboden war durchnässt und weich unter ihren Schritten. Der Wind hatte wieder nach Nordwesten gedreht, eine steife kanadische Brise, und Gallagher konnte nur mit Mühe verhindern, dass ihm die Zähne klapperten. Aber es gelang ihm nicht, die düsteren Bilder und die Fragen zu verscheuchen, die das Tagebuch hervorgerufen hatte. Wie war Sarah Many Horses, wie sie sie zu nennen begonnen hatten, von Wounded Knee, South Dakota, nach Lawton, Vermont, gelangt? Wenn Many Horses ermordet worden war, wie sie von Andies Teil des Tagebuches her annahmen, wer war dann ihr Mörder gewesen? Und wie hing dieses rätselhafte Geschehen mit den Morden Charuns zusammen?
An den Rändern dieser ganzen Geschichte lauerte ein Gedanke, den Gallagher nicht ignorieren konnte: dass er dieses Puzzle dazu benutzte, sich nicht um seine eigenen Probleme kümmern zu müssen. Nicht dass ihn das überraschte. Nur zerstörte er jetzt vielleicht dadurch seine Zusammenarbeit mit Jerry Matthews; was er sich kaum leisten konnte. Der letzte Blick auf seine Kontoauszüge hatte Gallagher ein ziemlich mulmiges Gefühl verschafft.
Er musste Jerry über das informieren, was in Lawton vor sich ging.
Sie durchquerten ein Hickorywäldchen knapp oberhalb von Andies Maisfeld. Hundert Meter unter ihnen, auf dem ebenen Weidestück neben dem Feld, sprang ein Mann, der sich wie ein Profifußballer bewegte, über einen umgestürzten Stamm und lief dann im Zickzack in ein Tannenwäldchen, das sich nach Süden erstreckte. Der Mann war von Kopf bis Fuß in einen Tarnanzug aus Hunderten einzelner Stoffstreifen gekleidet. Jeder Streifen war grün, schwarz oder braun gefärbt. In der Hand trug er eine mattschwarze Schrotflinte. Andies Gesicht verzog sich. »Jetzt ist das Grundstück schon seit fünf Jahren umzäunt, und die verdammten Truthahnjäger schleichen hier immer noch rum. Komm mit, er benutzt einen Weg, der um die Felder geht und dann über die Straße zu deiner Hütte führt.«
Mit den dünnen Buchenstämmen als Stützen glitt sie, so schnell sie konnte, den Hang hinunter. Gallaghers Absätze rutschten auf dem nassen Laub aus, und er musste sich anstrengen, um dicht hinter ihr zu bleiben. Andie bog in das Tannenwäldchen ab, ohne sich umzusehen. Gallagher rannte auf einem mit Kiefern- und Tannennadeln bedeckten Pfad schnaufend hinter ihr her. Der Jäger hatte bei seinem Lauf ganze Humusstücke aus dem Waldboden getreten. An einer Weggabelung war er nach links abgebogen.
Andie bedeutete Gallagher mit einem Wink über die Schulter, den rechten Pfad zu nehmen. Sogar bei weniger als hundert Meter Abstand war der Jäger durch seinen zotteligen Tarnanzug schwer auszumachen. Dann sah Gallagher etwas im dichten Unterholz aufblitzen. Der Jäger rannte gut fünfzig Meter vor ihnen, wo sich die beiden Pfade wieder trafen.
»Halten Sie sofort an!«, rief Andie. »Sie befinden sich auf eingezäuntem Privatgelände!«
Der Jäger wirbelte bei ihrem Ruf wie ein Athlet herum. Seine Gesichtsmaske war eine Haube, die über seinem Gesicht und seinen Schultern lag wie die Kapuze eines mittelalterlichen Henkers. Die Stoffstreifen seines Tarnanzugs waren klatschnass. Sie ließen das Wasser spritzen und schlugen gegen seinen Oberkörper, als er sich zu ihr umdrehte, und er erinnerte Gallagher an das Bild eines Moormenschen, das er einmal gesehen hatte, ein Monster aus der keltischen Sagenwelt, das, bedeckt von Sumpfpflanzen, aus dem Schlamm auftaucht und die Welt in Angst und Schrecken versetzt.
Der Jäger glitt auf sein rechtes Knie nieder und riss mit der gleichen Bewegung seine Waffe an die Schulter.
Obwohl die letzten Reste Wodka ihre Wahrnehmung trübten, bemerkte Andie seine Absicht sofort. Bevor er den Abzugshahn durchzog, hechtete sie hinter einen
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