Mystic
sich an Gallagher vorbei, und trotz der Benzindämpfe roch er ihren guten, sauberen Herbstgeruch, der ihn schon an dem Morgen, nachdem er angeschossen worden war, umgeben hatte. Ein angenehmes Gefühl überkam ihn, nur um im nächsten Augenblick von einer Welle der Angst – um sich selbst und um sie – fortgeschwemmt zu werden; und er wollte ihr sagen, dass sie das Haus besser verlassen sollten, bevor sie in das Schlafzimmer sahen.
Doch Andie schlich schon seitwärts an dem Papierchaos auf dem Vorplatz vorbei. Sie drückte sich gegen den Türrahmen, streckte die Hand aus und drehte den Türknopf aus unechtem Kristall. Er gab sofort nach. Sie bedeutete Gallagher, sich fernzuhalten. Mit der linken Hand stieß sie mit einer einzigen Bewegung die Tür auf und wirbelte gleichzeitig mit ausgestreckter Waffe in den Raum.
Ihr Atem ging stoßweise. Gallagher trat hinter ihr in das Schlafzimmer, und seine ersten reflexartigen Reaktionen – Ungläubigkeit und Ekel – gingen in ein Schwindelgefühl über. Der Boden schien unter ihm wegzugleiten.
Das Laken auf dem Bett war zerwühlt. Grüne Vorhänge wehten in der feuchten Brise hin und her, die durch das offene Fenster hereinkam. Nyren kniete vor einem Stuhl; sein weißer Frotteebademantel war über seinem fetten, nackten Hinterteil hochgeschoben. Zwei Ledergürtel fesselten seine Fußknöchel an die Stuhlbeine, mit den Vorhangschnüren waren seine Hände an die Armlehnen des Stuhls gebunden. Eine weitere Schnur war um seinen Hals gewunden und an der Stuhllehne befestigt. Ein orangefarbener Waschlappen steckte in seinem Mund. Der Zeigefinger seiner linken Hand war am zweiten Glied abgeschnitten. Blut aus einer Reihe brutaler, länglicher Wunden durchtränkte seinen Bademantel. Ein ähnlich schrecklicher Schlag hatte ihm über dem rechten Ohr ein dreieckiges Loch in den Kopf gehackt. Getrockneter Speichel und Tränen zogen Spuren über die Stellen seines Gesichts, die nicht blutverschmiert waren.
An den linken Arm der entstellten Leiche war eine Zeichnung geheftet.
Andie winkte Gallagher mit der linken Hand, ohne die Augen von dem Bibliothekar abzuwenden. »Geh … geh nach unten in den Flur«, sagte sie. »Da habe ich ein Telefon gesehen. Ruf neun-eins-eins an.«
Gallagher bewegte sich wie in Trance. Im Laufe der Jahre hatte er viele verstörende Dinge gesehen – eine Dämonenaustreibung in Westafrika, eine Beschneidungszeremonie in Papua-Neuguinea –, doch niemals einen Ritualmord wie diesen hier. Als die Brutalität des Ganzen den schützenden Schock durchbrach, der ihn im Schlafzimmer des Bibliothekars umhüllt hatte, war er auf dem Treppenabsatz angelangt und begann zu würgen.
Plötzlich wallte die Luft unten im Flur unnatürlich auf, und eine zwei Meter hohe, rötlich blaue Feuerwalze schoss auf, gierig, heiß und explosiv und genährt von den Benzindämpfen über dem durchtränkten Teppich. Die Flamme schwankte am Fuß der Treppe, sammelte Höllenkräfte und stieg höher.
Das ganze Haus keuchte asthmatisch, als die Feuerwand sich den Dämpfen und dem Sauerstoff entgegenwarf, der durch das Schlafzimmerfenster des Bibliothekars hereinströmte.
»Feuer!«, schrie Gallagher. »Feuer, Andie! Schnell raus hier!«
Er rannte über das Meer von Papieren zurück, stolperte und krachte jäh mit Andie zusammen, die in der Tür des Schlafzimmers erschien. Gemeinsam stürzten sie zu Füßen des Bibliothekars nieder, rappelten sich jedoch sofort wieder auf, als die glühende Wolke das benzingetränkte Papier hinter ihnen aufnahm und der Feueratem dem Rumpeln nächtlicher Güterwagen glich.
Gallagher hielt Andie am Oberarm und zog sie zum Fenster. Ein eiserner Steighaken steckte im Fensterbrett, ein blaues Seil fiel ins Leere hinunter. »Geh an dem Seil runter!«, rief er ihr zu.
Doch sie entwand sich ihm, gerade als die Flamme durch den Türrahmen drängte, lief zurück und machte sich an der Leiche zu schaffen. Sie hatte den Brief in der Hand und sah sich um.
»Was machst du denn da?«, schrie Gallagher.
»Ich suche das Tagebuch!«, schrie sie zurück. »Das Kruzifix! Oder sonst irgendwas!«
»Die sind hier nicht«, bellte er und packte sie diesmal fester. Er schleifte sie zum Fenster und zwängte sie hindurch, während die Flammen wild über den blauen Teppich rasten, Nyrens Leiche einhüllten und dann die Vorhänge und seine benzingeschwängerten Hosenbeine in Brand setzten. Gallagher warf sich auf das steile Dach, griff nach dem Seil, erwischte es erst nicht,
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