Mystic
Namen weitere zwei Tage aufwandten, hatten Andie und Gallagher beschlossen, sich so viele der bekannten Nachkommen wie möglich anzusehen.
Da sie befürchteten, dass überraschende Telefonanrufe ablehnende Reaktionen hervorrufen könnten, hatten sie in den letzten vierundzwanzig Stunden sechzehn der möglichen Tagebuchbesitzer zu Hause oder an ihren Arbeitsplätzen aufgesucht. Sie lebten alle im südlichen Teil des Bundesstaates und hatten ihre Fragen nach einem Tagebuch und einem Kruzifix ausnahmslos mit verständnislosen Blicken oder ungläubigem Gelächter beantwortet. Vier von ihnen wussten nicht einmal, dass ihre Vorfahren aus Lawton stammten.
Nyren war Kandidat Nummer siebzehn.
Seine ungepflasterte Auffahrt war fast eine Viertelmeile lang. Sie fuhren durch einen dichten Tannenwald, und Gallaghers Gedanken liefen, wie so oft in den vergangenen Tagen, zurück zu Monsignore McColl und seinen Bemühungen um das Vermächtnis von Pater D’Angelo. Seine Nervosität im Hinblick auf den bald seligzusprechenden Priester ließ Gallagher nicht in Ruhe.
Der Wald hörte auf. Nyrens Haus, gelb mit einem Satteldach, war von einem gepflegten Rasen umgeben. Tulpenspitzen waren an den Seiten eines gepflasterten Fußweges zu sehen. Ein Honda Accord neueren Baujahrs parkte auf einem Stellplatz unter einer Weißtanne.
Als sie ausstiegen, murrte Gallagher zwar über seine steifen Beine, aber er merkte, dass er die Krücken nicht länger brauchte. Er ließ sie im Wagen zurück.
Die Außentür zu der vorderen Veranda schlug gegen die Seitenwandung aus Schindeln. Regenpfützen standen auf dem Boden aus breiten Holzdielen. Blauviolette Schlieren schwammen auf der schillernden Wasseroberfläche und flossen Richtung Innentür, die ebenfalls leicht offen stand. Es roch unangenehm.
»Benzin?«, fragte Gallagher.
Andie nickte. Sie drückte die Innentür noch weiter auf. Der Geruch wurde jetzt stärker. »Mr. Nyren?«, rief sie.
Am anderen Ende eines kurzen Flurs schlug eine alte Standuhr die Viertelstunde. Aus dem oberen Stockwerk kam ein quietschendes Geräusch, als würde ein Möbelstück, möglicherweise ein Stuhl, über den Holzfußboden geschoben. Andie ging weiter ins Haus hinein, Gallagher folgte dicht hinter ihr und musterte die Einrichtung. Ein Tisch aus Ahornholz mit heruntergeklappten Seitenteilen, auf dem ein weißes Deckchen lag, stand an der Wand in der Diele unter einem vergoldeten Kaminspiegel.
»Herzlich willkommen bei Großmutter«, murmelte Gallagher.
»Leise, er könnte dich hören«, zischte Andie. Dann rief sie noch einmal, diesmal lauter: »Mr. Nyren? Ich bin Sergeant Andie Nightingale von der Kriminalpolizei des Staates Vermont. Hallo?«
Die Uhr tickte. Die Heizung knackte. Leichter Regen schlug gegen die Scheiben.
Andie schürzte die Lippen. Sie zog ihre Pistole und schlich mit kraftvoller Anmut die Treppe hinauf. Gallagher folgte ihr in einem Meter Abstand und hörte das Blut in seinen Schläfen pochen. Als er auf die vierte Stufe trat, knarrte es. Andie drehte sich mit geblähten Nasenflügeln um und bedeutete ihm mit der Schuhspitze, dass er auf der Treppeninnenseite gehen sollte.
Das Stockwerk über ihnen ging nach rechts ab, und sie reckte den Hals, um auf den Vorplatz sehen zu können. Gallagher fragte sich, was er tun sollte, wenn es zu einer Schießerei käme. Einfach wegrennen schien die einzig richtige Lösung, doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er das nicht tun würde. Nicht, solange Andie hier war.
Auf dem Vorplatz standen zwei Aktenschränke, deren Schubfächer aufgerissen waren, ein Durcheinander von Ordnern und Papieren türmte sich auf dem Boden. Einer der beiden Schränke lag umgestürzt auf der Seite. Tausende von Schriftstücken lagen über den grünen Teppich verstreut.
Oben am Treppenabsatz ging Andie in die Hocke. Die offene Tür zur Linken führte in ein Arbeitszimmer, jetzt ein Bild der Verwüstung. Der Schreibtisch aus Nussbaum war umgestürzt worden. Der Monitor des Computers leuchtete noch blau, trotz seines zerbrochenen Gehäuses. Ordner und Dokumente aus drei weiteren Aktenschränken waren über den ganzen Raum verstreut. Auch das Bücherregal war umgeworfen. Nyrens gerahmtes Bibliothekarsdiplom vom St.-Michael’s-College und zwei Ehrenurkunden von der Historischen Gesellschaft des Staates Vermont hingen schief an der weißen Wand hinter dem Schreibtisch. Eine Bodendiele lehnte an einem der Aktenschränke. Ein Loch gähnte im Boden davor.
Andie drängte
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