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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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auszugraben.«
    »Sie wissen ja gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin«, meinte Andie und sah auf den rissigen braunen Ordner in den abgemagerten Armen der Frau auf der anderen Seite des Tresens. Der blaue Lidschatten unter Marcous’ nachgezogenen Augenbrauen passte genau zu dem Blau ihres Kleides. Andie streckte die Hand nach dem Ordner aus, aber die Archivarin tat einen Schritt zurück und presste den Ordner an ihre Brust. »Ich hab Sie neulich in den Lokalnachrichten gesehen. Hat das hier mit den Morden in Lawton zu tun?«
    »Nein«, log Andie. »Also, ich muss jetzt wirklich diese Dokumente durchsehen, Ms. Marcous, und es ist schon spät.« Endlich erkannte Marcous, dass Andie ihr die Gründe für ihre ungewöhnliche Bitte um die alten, bis 1899 zurückreichenden Dokumente nicht verraten würde, und händigte ihr zögernd den dicken Ordner aus. Andie drehte der Archivarin den Rücken zu, ging zu einem grünen Metalltisch unter einer nackten Glühbirne und klappte den Ordner über Lamont Powell auf, den ehemaligen Bürgermeister von Lawton, Urgroßvater des jetzigen Bürgermeisters, Bruce Powell, und Ururgroßvater des Polizeichefs Mike Kerris.
    Irgendwann in den vergangenen neunzig Jahren waren die Dokumente von Wasser beschädigt worden, und viele der Aufzeichnungen, die verschiedene Betreuer mit schwarzer Tinte niedergeschrieben hatten, waren verschmiert.
    Doch einem Deckblatt zufolge, das Daten über seine Geburt, nächste Angehörige und Ähnliches enthielt, war Lamont Powell im März 1899 nach der Diagnose »gewalttätiger Wahnsinn« in die Anstalt eingewiesen worden und dort bis zu seinem Tode geblieben. Die folgende Krankengeschichte war dann vorwiegend in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge eingeordnet.
    Im Jahr vor Powells Selbstmord hatten die mit seinem Fall befassten Ärzte sich erfreut gezeigt über »große Fortschritte in der allgemeinen geistigen Verfassung des Patienten« und hatten ihm zunehmende Bewegungsfreiheit auf dem Anstaltsgelände eingeräumt. In dieser Zeit hatte Powell »keine Neigung zur Selbstverstümmelung gezeigt, wie es bei seiner Einweisung der Fall war«, befand der Bericht. In der Tat war Powell in den letzten zwei Monaten seines Lebens ein ordentlicher Status verliehen worden, was bedeutete, dass er sich überall in der Anstalt bewegen konnte, einschließlich der äußeren Anlagen.
    Andie las den nächsten Abschnitt und zuckte zurück. Am 28 . Juni 1906 hatte Powell sich mit zerrissenen Bettlaken an einem Baum im Wald hinter dem Heizkesselhaus aufgehängt. Bevor er sich umbrachte, schnitt er sich mit einer Schere, die er beim Frisör der Anstalt gestohlen hatte, die Zunge heraus.
    Sie presste die Fingerknöchel gegen die Lippen angesichts der Brutalität dieses Selbstmordes. Dann holte sie ein paarmal tief Luft und las weiter. Spärliche Notizen beschrieben eine Periode von zwei Jahren, die Powell in einem nahezu katatonischen Zustand verbracht hatte, nur unterbrochen von zeitweiligen hysterischen Anfällen, bei denen er vorgab, mit den Toten zu sprechen. Sie schlug eine Seite mit der jährlichen Beurteilung des Falles vom 12 . Mai 1902 auf. Da stand ein Absatz über den physischen Zustand des Patienten, einschließlich eines Exkurses über die Ergebnisse einer kürzlichen Zahnuntersuchung.
    »Drei Jahre nach Beginn der Behandlung leidet der Patient Powell immer noch unter lebhaften Halluzinationen. Wie schon zuvor gehen diese Halluzinationen seinen Versuchen voraus, mit allen erreichbaren Gegenständen sein Zahnfleisch zu attackieren, um sich die Zähne aus dem Mund zu reißen.«
    Andie starrte schreckgebannt auf den Absatz, sah dann auf und bemerkte, wie Eunice Marcous sie durch ihr mit Draht vergittertes Fenster hindurch beobachtete. »Halb sechs, Zeit für mich zu schließen«, verkündete die Archivarin.
    »Nur fünfzehn Minuten noch«, bat Andie. »Und ich werde eine Kopie davon brauchen, wenn ich durch bin.«
    »So alte Berichte müssen mit einem Archivkopierer kopiert werden, und der Einzige, der für uns erreichbar ist, befindet sich drüben in Montpelier«, sagte Marcous. »Das dauert mindestens eine Woche.«
    »Das macht nichts«, antwortete Andie. »Ich mach mir für den Moment ein paar Notizen.«
    Eine von Marcous’ nachgezogenen Augenbrauen fuhr in die Höhe. »Fünfzehn Minuten, dann ist Schluss. Ich hab Enkelkinder zu Hause, die machen Rabatz wegen ihres Abendbrots, wenn ich Sie noch lange hierlasse.«
    Andie wandte sich wieder dem Ordner zu und überflog die

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