Mystic
folgenden Seiten auf der Suche nach weiteren Hinweisen auf Powells Halluzinationen. In den achtzehn Monaten vor dem Bericht von 1902 fand sie zwei kleinere Eintragungen, die Wahnvorstellungen andeuteten. Beide folgten Vorfällen, bei denen der frühere Bürgermeister es geschafft hatte, sich Zähne aus dem Kiefer zu reißen, einmal mit einer Gabel, das andere Mal mit seinen eigenen Fingernägeln.
Sonst fand sie keine Hinweise auf Halluzinationen mehr, bis sie auf einen langen Diagnosebericht stieß, der in den Monaten direkt nach Lamont Powells Einweisung in die Anstalt geschrieben worden war.
Als sie ihn gelesen hatte, brach sie beinahe zusammen vor Ekel und Angst. »O mein Gott«, flüsterte Andie.
31
In der Mitte des Bundesstaates ragte zur gleichen Zeit das durchsichtige Rohr eines blassgelben Sauerstofftanks in einen Verteiler, von dem aus zwei Schläuche in die Nasenlöcher von Oscar Stubbins führten. Stubbins’ Hände zitterten vor Erwartung, als seine Frau Cornelia eine Zigarette anzündete, die sie ihm dann an die Lippen hielt. Stubbins legte die Finger über das Loch in dem Plastiktubus, der in seinem Kehlkopf steckte. Das Zigarettenende glimmte auf. Blauer Rauch drang zwischen seinen Fingern hindurch aus dem Plastiktubus.
»Noch einen Zug«, krächzte Stubbins beim Ausatmen.
»Nein, keinen einzigen mehr«, sagte Cornelia bestimmt. »Der Doktor macht mich zur Schnecke, wenn er das erfährt.«
»Liebst du mich denn auch noch, wenn ich nicht mehr da bin?«, fragte er sie mit seiner Froschstimme.
Cornelia wich seinem Blick aus. Sie nickte nur und murmelte: »Das wird nie anders sein, Oscar.«
»Dann gib uns noch einen Zug, Häschen.«
Sie hielt ihm die Zigarette noch einmal an die Lippen. Das Ende glühte rot auf. Genießerisch schloss er die Augen und brach dann in einen heftigen, schleimigen Husten aus. Er stöhnte und wand sich in seinem Rollstuhl. Cornelia sprang alarmiert auf. Sie führte einen dünnen Schlauch in den Plastiktubus ein. Man hörte ein schlürfendes Geräusch, und ein Schleimpfropf wurde in den Schlauch hochgesaugt.
Stubbins wurde noch einmal von Husten geschüttelt und atmete dann leichter. Er sah Gallagher an und krächzte: »Ich hab noch einen Monat, vielleicht zwei. Alles voller Krebs.«
»Tut mir leid«, sagte Gallagher hilflos und kämpfte gegen den Drang an, hinauszurennen und frische Luft zu schnappen.
»Was soll’s?«, krächzte Stubbins. »Wir müssen alle irgendwann dran glauben. Was wollen Sie also, Mr. Gallagher?«
»Ich bin wegen Terrance Danby hier.«
Stubbins nahm den Namen auf, als hätte er ihn irgendwie erwartet. »Ist er in Schwierigkeiten?«
»Das weiß ich nicht.«
»Erzählen Sie mir keinen Quatsch.«
»Schon möglich, dass er in Schwierigkeiten ist.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Es geht um Mordfälle. Drei an der Zahl.«
»Doch nicht etwa diese Morde unten in Lawton, von denen wir in der Zeitung gelesen haben?«, fragte Cornelia.
Gallagher nickte.
»Diese Spinne«, sagte sie angewidert. Sie hatte mindestens vierzig Kilo Übergewicht; ihre Fettpolster waren in einen fleckigen rosaroten Hausanzug gezwängt. Was ihren Anblick aber fast unerträglich machte, waren ihre beiden falsch gewachsenen oberen Schneidezähne; sie staken waagerecht im Zahnfleisch wie zwei kleine gelbe Hauer und ragten zwischen ihren Lippen hervor, selbst wenn ihr Mund geschlossen war.
Obwohl er sich in ihrem Haus wie in einer Monstershow fühlte, wusste Gallagher nur zu gut, dass es ein Glücksfall war, die Stubbins’ gefunden zu haben. Das Paar hatte in dem Waisenhaus gearbeitet, in dem Terrance Danby untergebracht worden war, nachdem er den Mörder seines Vaters erschlagen hatte. Oscar war Hausmeister in Hennessy House gewesen. Cornelia hatte dort als Köchin gearbeitet. Im Jahre 1867 als »Katholisches Heim für verlassene und schwer erziehbare Kinder« gegründet, gewährte Hennessy House hundertacht Jahre lang Waisenkindern aus der Umgebung Schutz, bis der Staat Vermont und die Erzdiözese von Burlington beschlossen, dass solche Einrichtungen nicht im Interesse der Kinder waren, und das Heim zugunsten eines Pflegefamiliensystems aufgaben.
Gallagher war beim Sozialamt in Burlington vorbeigefahren, um sich dort ein paar Hintergrundinformationen über Hennessy House zu besorgen, und hatte nebenbei gefragt, wie er jemanden ausfindig machen könne, der in den letzten Jahren seines Bestehens in dem Heim gearbeitet hatte. Einer der älteren Sozialarbeiter erinnerte
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