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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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sich in jedem ihrer Vorträge, ihrer Gedichte, ihrer Bücher. Dabei kenne ich keinen einzigen ihrer nächtlichen Träume – davon sprach sie nicht – sie sprach von den Träumen ihrer helllichten Tage, die trotzdem viel mehr waren als das, was wir üblicherweise »Tagträume« nennen. Es waren Träume, zum Beispiel von der biblischen Verheißung durch die Jahrhunderte hin, von deren Widerhall in ihr, der offenbarbis in ihr Unbewusstes reichte und es mitschwingen ließ. So konnte sie von »Gottes Wunsch« für uns schreiben, dass wir zum Werkzeug des Friedens würden bis in unsere Träume hinein. Damit bezieht sie sich auf das bekannte Gebet des Franz von Assisi: »O Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens«. Und ihr Wunsch war, so davon erfüllt zu werden, dass sie sogar auch nachts davon träumen könnte. Aber es war vor allem ihr großer Tagtraum, ein Werkzeug des Friedens zu werden. 24
    Ihre Träume könnten und sollten also »Gottes Wünsche«, »Gottes Träume« – was sie als solche verstand – widerspiegeln: Sie möchte Gottes Träume mitträumen, weiterträumen und sie stellt sich vor, selbst von Gott geträumt zu sein. So lautet der Titel einer ihrer Gedichtbände: »Träume mich, Gott«. 25 Von Gott weiß sie sich geträumt, sonst wäre sie nach ihrer Vorstellung gar nicht da. Und Gott möge sie weiter träumen. Für Dorothee Sölle geht es darum vor allem, »die Träumenden zum Handeln zu bringen, und die Handelnden zum Träumen«. 26
    Einen dieser »Träume Gottes«, den sie vor allem mitträumen möchte, benennt sie, wie gesagt, mit dem Schlüsselwort des Franz von Assisi: ein Werkzeug des Friedens zu werden. Bei Dorothee Sölle ist das nicht nur ein Traum für sich selbst oder für den nächsten Freundeskreis, sondern es ist ein politischer Traum für die ganze Erde, in Übereinstimmung mit der biblischen Verheißung: »Wir warten auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt.« Und unsere Identität sei dort, wo wir noch nie waren, in der wahren Heimat des Menschen, einer Erde ohne Krieg. Und sie fährt fort und führt aus, wie dieser »große Traum« in ihrer persönlichen Gottesbeziehung verwurzelt ist: » ›Dein bin ich, o Gott‹, bedeutet«, so schreibt sie, »dass ich mich fallen lassen kann, dass meine Wünsche für mein Leben nicht klein und ängstlich sein müssen, sondern gerade so groß wie dieWünsche und Verheißungen dessen, dem ich gehöre.« 27 Also nicht kleiner als Gottes Traum möchte sie sein.
    Auch in der Tiefenpsychologie nennen wir die Träume, die weit über das Persönliche hinausgehen, »große Träume«. Sie betreffen die ganze Gesellschaft, die ganze Erde und damit die ganze Menschheit. Sie wurden in den alten Stammeskulturen von den Schamanen geträumt, im alten Israel von den Propheten und vielleicht auch von den Königen, die Verantwortung für ein ganzes Land zu tragen hatten. Dorothee Sölle wünschte sich, mittragen zu dürfen, mit Gott.
    Seit ihrem frühen Buch »Die Hinreise« von 1975, in dem sie die Notwendigkeit innerer Erfahrung zum ersten Mal betonte, wertete Sölle die Kraft des Wünschens, des Sehnens im Menschen auf – im Gegensatz zu der seinerzeit modischen, auf Freud zurückgehenden Vorstellung, dass »Wunschdenken« vor allem als illusionär und realitätsfeindlich einzustufen sei. Freuds Vorstellung steht natürlich in einem anderen Zusammenhang, und ich möchte hier nicht gegen Freud polemisieren. Worauf es Dorothee Sölle ankommt, ist vielmehr dieses: Wünsche sind grundsätzlich wichtig. Sogar an Märchen-Beispielen, in denen bekanntlich »die Zeit, in denen das Wünschen noch geholfen hat«, immer wieder hervorgehoben wird, erläutert sie die schöpferische Kraft des Wünschens, die wir auch eine Kraft der Sehnsucht nennen könnten. Sölle möchte die Menschen wieder aufwecken zu ihren großen Wünschen, ihren großen Sehnsüchten, weil nur solche nämlich die Kraft des Imaginierens in sich tragen, des Voraus-Entwerfens, des Probehandelns. Alles aber, was wir ganz tief wünschen, gewinnt eine Tendenz, sich zu realisieren. Ich erinnere mich da an eine hochbetagte Freundin, die spirituell nicht unerfahren war, – erfahrener als ich, damals noch in meinen Dreißigern – die mir damals eines Tages in vollem Ernst sagte: »Was du dir ganz tief wünschst, mit deinem ganzenWesen, das geht in Erfüllung.« Da ich das im ersten Moment für Spinnerei hielt, fragte sie souverän zurück: »Wusstest du das denn

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