Mystik des Herzens
Stein geworden. Die Mystik hat dagegen die Menschen, die von ihr ergriffen waren, gegen mächtige, erstarrte Institutionen geholfen, und sie tut es, zugegeben manchmal auf verquere Weise, auch heute. Spirituelle Artistik, wie du das nennst, mag hereinspielen, aber das Existentielle ist doch etwas ganz Anderes. Ich bin an einem Abend zu deiner Mutter ins Zimmer getreten, ohne anzuklopfen. Da saßdie alte Frau mit gefalteten Händen ohne Handarbeit auf ihrem Stuhl. Ich weiß nicht, ob man das, was sie tat, beten oder nachsinnen nennen soll. Aber es war ein großer Friede bei ihr.
…
Dorothee: Mein wichtigstes Interesse ist gerade, die Mystik zu demokratisieren. Damit meine ich, die mystische Empfindlichkeit, die in uns allen steckt, wieder zuzulassen, sie auszugraben aus dem Schutt der Trivialität. Aus der Selbsttrivialisierung, wenn du so willst. Eine ältere Frau in New York hat mir von einer Begegnung mit einem Guru erzählt. Als sie ihrem schwarzen Pfarrer darüber berichtete, stellte der nur eine Frage, und die möchte ich Dir auch stellen. Hat er euch denn nicht gesagt, das wir alle Mystiker sind?
Fulbert: Dass wir alle Mystiker sind, dieser Satz ist ja nicht nur eine Feststellung, sondern eine Forderung ans Leben. Es soll kein Mensch nur sein Leben fristen, es soll kein Mensch sich erschöpfen im reinen Überleben. Jeder soll der Wahrheit nahe kommen können. Für jeden Menschen soll es Orte der Absichtslosigkeit geben, der Schau, der Wahrnehmung der Lebensschönheit – die fruitio, den Genuss Gottes. Wir sind alle Mystiker, der Satz enthält das Menschenrecht auf Schönheit und Schau. Gibt es so etwas wie das Menschenrecht auf die Schau Gottes? (S. 13–14)
Dieser kleine Dialog gehört zur Einleitung in Sölles Mystik-Buch. Sie spricht dann noch aus:
»Hingezogen hat mich zur Mystik der Traum, hier eine andere Gestalt von Spiritualität zu finden, die ich innerhalb des deutschen Protestantismus vermisste. Weniger dogmatisch, weniger verkopft und in historische Worthülsen verpackt. Weniger männerzentriert sollte das sein, wasich suchte. Es sollte auf Erfahrung bezogen sein im doppelten Sinn des Wortes, das sowohl die Entstehung wie die Lebenskonsequenzen dieser Gottesliebe meint.« 22
Ehe ich ausdrücklich über das spreche, was Sölles Denken über Mystik auszeichnet, nämlich dass es gälte, den Traum, den Gott von uns hat, zu erfüllen, möchte ich als Konzentrationsübung, wie sie selbst es nennt, ein Gedicht vorstellen und zum Durchmeditieren einladen. Es handelt vom Meer. Vielleicht ist es möglich, das Meer in unserer Vorstellung nahe zu uns heranzuholen. Sölle nennt dieses Gedicht »Konzentrationsübung«. Ich habe sie es lesen hören, im Saal der Lindauer Inselhalle im Jahr 2000. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können:
»Konzentrationsübung
Wenn ich ganz still bin
kann ich von meinem bett aus
das meer rauschen hören
es genügt aber nicht ganz still zu sein
ich muß auch meine gedanken vom land abziehen
Es genügt nicht die gedanken vom festland abzuziehen
ich muß auch das atmen dem meer anpassen
weil ich beim einatmen weniger höre
Es genügt nicht den atem dem meer anzupassen
ich muß auch händen und füßen die ungeduld nehmen
Es genügt nicht hände und füße zu besänftigen
ich muß auch die bilder von mir weggeben
Es genügt nicht die bilder wegzugeben
ich muß auch das müssen lassen
Es genügt nicht das müssen zu lassen
solange ich das ich nicht verlasse
Es genügt nicht das ich zu lassen
ich lerne das fallen
Es genügt nicht zu fallen
aber während ich falle
und mir entsinke
höre ich auf
das meer zu suchen
weil das meer nun
von der küste heraufgekommen
in mein zimmer getreten
um mich ist
Wenn ich ganz still bin« 23
Dieses Gedicht ist eine Anleitung, in das tiefere Meditieren zu gelangen. Man kann durchaus vom wirklichen Meer ausgehen und diese Meditation kann an einer Küste, kann dem realen Meer gegenüber, geschehen. Das Rauschen des Meeres und des Windes kann in die Meditation hineingenommen werden und sich mit unserem Atem austauschen. Wir können uns dabei so ganz an die Meditation des Meeres verlieren, dass wir zuletzt erfüllt sind vom Meer.
»Sie hatte große Träume und sie willigte ein in die Endlichkeit des Lebens.« So lese ich in der Todesanzeige für Dorothee Sölle, die gewiss von Fulbert Steffensky, ihrem Mann, so formuliert ist. »Große Träume« hatte sie, das erwies jedes Gespräch mit ihr, das zeigte
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