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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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nicht?« Sie war gewiss lebenserfahren. Und ihre Vorstellung hat mich nicht mehr ganz losgelassen. So ähnlich meint es Dorothee Sölle auch, doch bezieht sie die Möglichkeit der Wunscherfüllung immer auf Gott. Große Wünsche setzen starke, auch emotionale Kräfte frei: Sehnsucht, Liebe, Mut, die der Verwirklichung des Voraus-Entworfenen zugute kommen, indem sie den Energie-Schub, den »Sprit« gleichsam dazu geben. Das gibt geistigen und emotionalen »Sprit«, wenn wir uns etwas ganz tief wünschen.
    Als tiefsten Wunsch und Traum eines Menschen im Blick auf sich selbst nennt Sölle hier »den Wunsch, ganz zu sein«. Für sie ist dies eben nicht der Wunsch eines schwachen, verachteten und sich selbst missachtenden Menschen, wie manche Christen es sind, indem sie ihren Glauben missverstehen, sondern es ist gerade »der wachsende Wunsch, der aus einem erfüllten Leben kommt«. Sie beschreibt diesen tiefsten Traum des Menschen, die Sehnsucht nach Selbst-Transzendierung, in Anklang an Kierkegaards Formulierung, Gottes zu bedürfen sei des Menschen höchste Vollkommenheit , auch dies ist ein mystischer Gedanke. Gott zu brauchen sei in uns angelegt, gehöre zur condition humaine , der Pfeil der Sehnsucht gehe über alles Gegebene hinaus. »Der Schmerz um das noch ausstehende Reich Gottes ist zugleich der größte Reichtum des Menschen« 28 , ergänzt Sölle.

    Auch angesichts der Begrenzungen unseres Lebens wie Endlichkeit, Tod und Leiden wird der Wunsch, ganz zu sein, laut als »das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben« 29 : »So drückt das alte Wort der religiösen Sprache ›Heil‹ gerade dieses Ganz-Sein aus, dieses Unzerstückelt-Sein, Nicht-kaputt-sein.« Es sei zugleich, so Sölle, »derWunsch nach einem Leben ohne Berechnung und ohne Angst, ohne äußere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne Absicherung. Vertrauen können, hoffen können, glauben können – alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und um eben dieses Glück des Ganzseins geht es in der Religion«, so schreibt sie. 30 Es ist ein Glücksgefühl, überhaupt vertrauen und hoffen zu können.
    Wenn wir nun nach den wichtigsten Wünschen, den wichtigsten Trauminhalten der Dorothee Sölle fragen, so zeigen sie sich immer in Verbindung mit Gott: »Hat Gott Zukunft? Gottes Zukunft ist glaubbar nur in der Erfahrung von Gottes Gegenwart. Nur wenn wir die Gegenwart Gottes erfahren, können wir auch um die Zukunft Gottes beten oder von ihr träumen.« Träumen und Beten rücken bei Dorothee Sölle überhaupt eng zusammen. Von diesem Gedanken her kommt sie zur Mystik, die sie später als Basis des Widerstands, der Widerstandsfähigkeit gegen Unrecht und Gewalt in der Welt, wie wir sahen, immer stärker bestimmt: »Wenn es uns gelingt, wieder eine Mystik der Gegenwart Gottes mitzuteilen, eine Mystik, die zugleich den Widerstand, die Revolution Gottes enthält, nur dann können wir ernsthaft von der Zukunft Gottes sprechen.« 31
    Eines der schönsten, sehr weiblich empfundenen Traumbilder Dorothee Sölles ist dieses, dass wir Menschen dazu da seien, »am Mantel Gottes mitzustricken«:

    »Eine große decke breite aus
    aus wünschen die so viel zärtlichkeit haben
    dass sie gebetet werden
    und lieben ist das tätigkeitswort
    das zu gott gehört
    so kommt die decke von gott
    …
    eine dunkle decke
    ausgebreitet die hoffnung der armen zu schützen
    bis die nacht endet
    bis endlich die nacht endet« 32

    Die Voraussetzung dazu, dass wir am Mantel Gottes mitstricken können, steckt in der Überzeugung, dass Gott selbst uns träumt: »Gott träumt uns, und wir sollen ihn nicht alleine träumen lassen.« 33 Das ist ihr neuer Gedanke.
    Zum Mantel Gottes, an dem wir mitstricken, gehört vor allem die Schöpfung: »Ich denke, die mystische Spiritualität des Einsseins mit der Natur« – wir haben ihr Baumgedicht, ihr Meergedicht betrachtet – »ist die beste Vorbereitung auf das andere Leben, das wir suchen. Ein sakramentaler Umgang mit dem Brot und dem Wasser, dem eigenen Leib und den nichtmenschlichen Geschwistern, also den Tieren und Pflanzen, der Energie und dem Kosmos selber wächst aus dem Abgrund, der Gott ist.« 34
    Dorothee Sölle erinnert an eine Gedichtzeile aus Mittelamerika, wo sie sich an verschiedenen Aktivitäten und Aktionen zur Befreiung der Menschen dort beteiligte, eine Gedichtzeile, die sie sehr liebt: »Die Erde dreht sich zärtlich, compañera,« und fügt hinzu: »Dieses Drehen und Wiegen

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