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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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den Einzelnen immer notwendiger werde, aber auch für Gruppen, gerade für solche, die dem etwas entgegenzusetzen haben, in einem konkreten Handeln. Da bedeutet es, eine unglaubliche Widerstandskraft gegen den fast als unentrinnbar daherkommenden Sog einer gewissen Form der Globalisierungaufzubauen, die man nur aus einer sehr tiefen inneren Verankerung gewinnen kann.
    Unvergesslich war mir Dorothees innere Freiheit, die geistige Energie, die diese 1929 geborene Kölnerin noch in ihrem 72. Lebensjahr auszusenden vermochte, indem sie auf einmal, mitten im Vortrag vom Rednerpult aus zu singen begann, ein Lied, das ihren vorgetragenen Gedanken wirksam untermalte. Auch Singen und Musizieren gehörte für sie zu den großen Befreiungserfahrungen. Viel mystisches Gut fand Dorothee Sölle in den alten Liedern verborgen, zum Beispiel bei Texten von Tersteegen, einem Mystiker des Protestantismus, oder bei Paul Gerhardt.
    Sölle schreibt einmal: »Den mystischen Satz: ›Ich bin, was ich tue‹ 18 empfinde ich oft beim Singen oder Klavierspielen. Also, dass ich ganz präsent bin. Dass da nichts von mir draußen ist oder daneben.«
    Sie wünschte sich eine »Theopoesie« statt einer bloßen Theologie, ein genialer Einfall von ihr. Denn Zugang zu Gott und Kontakt mit Gott schien ihr immer mehr ein schöpferischer oder auch empfangender Akt zu sein statt eines rein reflektierenden. So trug sie z.B. mitten in einem Vortrag ein Gedicht vor, das zugleich zu meditieren sei. Ich zitiere es in Auszügen:

    »Ich bin nicht allein

    An einem strahlenden tag im november
    bespreche ich alles mit meinem baum
    der wind hat ihm die krone geplündert
    halb hängt er noch
    voll rost und gold

    Der wind wird dir die schätze nehmen
    sag ich ihm und er lächelt wippend
    …

    Meinst du gott kommt wieder hier vorbei
    frag ich ihn absichtsvoll
    er lächelt wippend
    halb hängt er noch
    voll rost und gold« 19

    Ein anderes Gedicht, von dem ich nur ein paar Zeilen anführe, ist adressiert an den »Menschenfreund«, der für sie Christus ist:

    »…
    Mach uns frei menschenfreund
    von allen falschen wünschen mach uns ledig
    vom schneller mehr und öfter trenne uns
    vom besitz der uns besetzt hat
    reiß uns los

    Lass und fortgehen mit dir
    hilf uns heraus
    mach uns leer
    dass gott uns füllen kann« 20

    Die Bitte um Leere, die Gott füllen kann, ist ein uraltes Thema der Mystik. Stimmt Sölles Satz auch für uns? Sind wir wirklich alle Mystiker? Selbst Sölles Mann, Fulbert Steffensky, fragte zunächst, als er nur die ersten Seiten von Dorothees Mystik-Buch in der Hand hielt, ob wir wirklich alle Mystiker seien. Er dachte dabei an seine Eltern, einfache katholische Christen. Als Vorwort zu ihrem Mystik-Buch lässt uns Dorothee Sölle an dem damaligen Gespräch mit ihrem Mann teilhaben. Ich zitiere ein paar Sätze daraus. 21 Ich finde es schön, mit zu vollziehen, wie die beiden hier ringen, um das rechte Verständnis der Mystik miteinander ringen.

    Fulbert: Mich stört an der Mystik, dass sie eigentlich nichts für einfache Leute ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dassmeine Mutter oder mein Vater etwas von dem haben könnten, was du da versuchst.
    Dorothee: Vielleicht kannte deine Mutter aber das Lied aus dem Gesangbuch – und sie summt – »In deine Lieb’ versenken will ich mich ganz hinab, mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab.«
    Fulbert: Frömmigkeit ja, aber Mystik?
    Dorothee: Ich vermute, dass Mystik immer zugleich Frömmigkeit ist.
    Fulbert: Ich komme noch einmal auf meine Mutter zurück. Ich glaube, dass sie sich jeden Satz der neutestamentlichen Tradition als Brot aneignen kann, von demman in einem normalen und geplagten Leben existieren kann. Was aber soll sie mit den religiösen Sonderkünsten eines Jakob Böhme oder eines Johannes vom Kreuz anfangen? Das Evangelium selber hat es doch eher mit einfachen und einsichtigen Wünschen der Menschen zu tun. Dass eine gesund ist und nicht am Leben verzweifeln muss. Dass einer sehen und hören kann. Dass er einmal ohne Tränen leben kann. Und dass sie einen Namen hat. Es geht doch nicht um spirituelle Artistik, sondern um die einfache Möglichkeit des Lebens.
    Dorothee: Geht es nicht den Mystikern genau um dieses Brot des Lebens? Die Schwierigkeit scheint mir die zu sein, dass die Menschen, auch deine Mutter, ganz sicher aber ihre Kinder und Enkel, eben nicht einfach dem Evangelium gegenüberstehen. Es ist doch auch entstellt, korrumpiert, zerstört, für viele längst zu

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