Mystik des Herzens
sehr verwunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst … Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte … Da ward ich von großer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend jemandemzu offenbaren … Wenn ich von dieser Schau ganz durchdrungen war, sprach ich vieles, was denen, die es hörten, fremd war. Ließ aber die Gewalt der Schau ein wenig nach, in der ich mich mehr wie ein kleines Kind als nach den Jahren meines Alters verhielt, so schämte ich mich sehr, weinte oft und hätte häufig lieber geschwiegen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Denn aus Furcht vor den Menschen wagte ich niemandem zu sagen, was ich schaute.« 2
Scham und Scheu erfüllen die Menschen, die Neues, ihnen selbst Offenbartes erfahren, was bis dahin noch nicht in ihre geistige Umwelt passt. Hier aber wird die kindliche und dann auch die jugendliche Hildegard erschüttert und befremdet von Erlebnissen, die sie selbst nicht einordnen und mit ihren nächsten Menschen auch nicht teilen kann. In ihrer Vita erzählt sie weiter, dass sie mit ihrer Amme darüber zu sprechen versucht und diese auch befragt habe, ob sie denn nicht auch das entsprechende Bild sähe, das ihr selber unabweisbar vor Augen stand. Die Amme aber konnte nichts dergleichen wahrnehmen. Geradezu verstört darüber, dass sich diese Erfahrungen zwischenmenschlich nicht vermitteln ließen, erkannte Hildegard erst jetzt, dass ihre visionären Wahrnehmungen subjektives Erleben darstellten. Dabei begegneten sie ihr doch gleichsam als Gegenüber, wie objektiv, mehr noch, als etwas Transpersonales.
Es ist mehr als begreiflich, dass Hildegard lange nicht wagte, etwas von ihren inneren Schauungen niederzuschreiben, wagte sie doch zunächst mit keinem Menschen darüber zu sprechen. Was sie erfuhr, ging weit über die pubertätsbedingte und allemal schamerweckende Erkenntnis hinaus, anders zu sein als andere. Über der Erfahrung spontaner Audiovisionen und den eigenständigen religiösen Bildern, die sie enthielten, lag damals ebenso leicht die Verdächtigung, den Einhauchungen irreführender Luftgeisterausgesetzt und womöglich »besessen« zu sein, wie heute der Verdacht aufkäme, es handle sich bei diesem Hören von Stimmen und Sehen von Bildern womöglich um psychotische Episoden.
Wie heute eine Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnose und Behandlung drohte, so damals die Stigmatisierung durch den Verdacht auf Ketzerei.
Die junge Hildegard begann, vieles bei sich zu behalten und »im Herzen zu bewegen«. Sie selbst verstand ihre Erfahrungen spirituell. Es kam ihrer Nachdenklichkeit und ihrer Introversion wahrscheinlich entgegen, dass ihre Eltern beschlossen, dieses zehnte Kind – zumal das Zuvorgeborene gestorben war – als ihren »Zehnten« Gott zu weihen und es schon vom achten Lebensjahr an einer geistlichen Erziehung zuzuführen, zunächst bei einer verwitweten, spirituell aufgeschlossenen Verwandten auf Burg Sponheim, wo sie mit einem gleichaltrigen Mädchen und der um sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim in die Grundlagen religiöser Bildung eingeführt werden sollte. Dies ist gleichsam ein »Skript«, das ihr die Eltern zuschrieben und das ihr Leben prägen wird. Auf Burg Sponheim lernte sie lesen und schreiben, lernte auch die entsprechenden Lektüren kennen, die zu einem geistlichen Leben hinführten. Die Mädchen waren, ihrem Alter entsprechend, spirituell zu begeistern und mögen oft sehnsüchtig von dem hohen Bergfried auf Burg Sponheim 3 aus, der heute noch steht, in die Ferne geblickt haben, wo irgendwo im Osten, wo die Sonne aufging, Jerusalem lag, die Heilige Stadt, zu der zu der Zeit die europäische Ritterschaft aufbrach, dem Kreuzzugsgedanken folgend, der damals alle kritiklos begeisterte.
Als die inzwischen eng miteinander verbundenen Mädchen schließlich selbst den hochgemuten Wunsch äußerten, auf Pilgerschaft nach Jerusalem zu gehen, wurde den Eltern bange, so dass sie sich eher noch auf eine anderekühne Idee der spirituell ergriffenen Mädchen einließen, nämlich sie in eine Klause, die dem neuen Benediktinerklause auf dem Disibodenberg angeschlossen war, einziehen zu lassen. Jutta war damals immerhin zwanzig, die beiden Jüngeren vierzehn Jahre alt. Erst neuere Forschung, der die redaktionell bearbeitete Vita Jutta von Sponheims 4 zugrunde lag, gelangte zu der Auffassung um Hildegards Kindheit und Jugend, die ich soeben beschrieben habe, und widerspricht damit älteren
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