Mystik des Herzens
Atemleiden, Augenleiden, Lähmungen, solange sie sich diesem inneren Auftrag verweigerte. Sie wurde, wie sie selbst mehrfach beschreibt, nur dann krank, wenn sie ihrer »weiblichen Schwäche« nachgab. Öffnete sie sich der Aufgabe, die sie rief, allen Ängsten zum Trotz, so wurde die Somatisierung überflüssig. Da stand diese Frau nach wochenlanger Lähmung auf, schwang sich aufs Pferd und kämpfte um ihre Sache, z.B. um die Erlaubnis zur Gründung ihres ersten Klosters auf dem Rupertsberg bei Bingen, bei der zuständigen Kirchenbehörde in Mainz. Diese Frau ist in der Zeit, in der man kaum die Lebenserwartung von dreißig Jahren hatte, 82 Jahre alt geworden. Sie war hochsensibel auf alle Fragen der inneren Authentizität und somatisierte, wenn siesich verleugnete: doch gesundete sie fast sofort, wenn sie sich riskierte.
Jedoch ehe sie etwas zu veröffentlichen wagt, schreibt sie einen überaus demütigen und angstvollen Brief an den großen geistlichen Mentor des damaligen Europa, an den Abt und Mystiker Bernhard von Clairvaux. Hier lernen wir die Frau Hildegard kennen, die sich durchringen musste zu ihrer eigenen Größe:
»Verehrungswürdiger Vater Bernhard, wunderbar stehst Du da in hohen Ehren aus Gottes Kraft … Ich bitte Dich, Vater, beim lebendigen Gott, höre mich, da ich Dich frage: Ich bin gar sehr bekümmert ob dieser Schau, die sich mir im Geiste als ein Mysterium auftat. Niemals schaute ich sie mit äußeren Augen des Fleisches. Ich, erbärmlich und mehr als erbärmlich in meinem Sein als Frau, schaute schon von meiner Kindheit an große Wunderdinge, die meine Zunge nicht aussprechen könnte, wenn nicht Gottes Geist mich lehrte zu glauben … Um der Liebe Gottes willen begehre ich, Vater, dass Du mich tröstest, dann werde ich sicher sein. Ich sah Dich vor mehr als zwei Jahren in dieser Schau als einen Menschen, der in die Sonne blickt und sich nicht fürchtet, sondern sehr kühn ist. Und ich habe geweint, weil ich so sehr erröte und so zaghaft bin. Gütiger Vater, Mildester, ich bin in Deine Seele hineingelegt, damit Du mir durch Dein Wort enthüllst, ob Du willst, dass ich dies offen sagen oder Schweigen bewahren soll. Denn große Mühen habe ich in dieser Schau, in wieweit ich das, was ich gesehen und gehört habe, sagen darf. Ja, bisweilen werde ich – weil ich schweige – von dieser Schau mit schweren Krankheiten aufs Lager niedergeworfen, so dass ich mich nicht aufrichten kann.« 7
Bernhard antwortet zurückhaltend, hat er doch noch keinen rechten Einblick in Hildegards Werk, das eben entsteht, aber doch ermutigend:
»Wir freuen uns mit Dir über die Gnade Gottes, die in Dir ist … Im übrigen, was sollen wir noch lehren oder mahnen, wo doch schon eine innere Unterweisung besteht und eine Salbung über alles belehrt …?« 8 (ebd., S. 27).
In aller Öffentlichkeit soll sich Bernhard von Clairvaux, will man einer Quelle glauben, zu Hildegard bekannt haben, auf der Synode zu Trier (1147–1148), wo er veranlasst haben soll, dass vor den Bischöfen des Reiches und dem Papst aus Hildegards entstehendem Scivias vorgelesen wurde, und das für Hildegard sehr wichtige Urteil entstand, dass ihre Visionen dem rechten, dem Heiligen Geist entstammten.
So vollendet Hildegard schließlich nach einer Niederschrift, die zehn Jahre in Anspruch nahm, von 1141 bis 1151, ihr erstes Werk, Scivias 9 ), unter dem ständigen, sensiblen und tatkräftigen Beistand ihres Vertrauten, des Magisters Volmar, und schließlich auch der jungen adeligen Mitschwester Richardis, mit der sie so tiefe Freundschaft verband, dass sie die junge Frau nicht mehr loslassen wollte, sondern sie bedrängte zu bleiben, als diese eines Tages einem Ruf, selbst Äbtissin in Bremen zu werden, folgte. Hildegard, die Einsame in ihrer Größe, kannte tiefe Bindungen, kannte die Faszination des Eros. 10 Trennung und Verlust – durch den Tod schließlich beider Vertrauter – konnte sie nur mit großer Mühe akzeptieren und verkraften, indem sie die Trauerarbeit in ihre Spiritualität aufnahm. In verwandelter Gestalt findet sich z.B. Richardis in ihrem einzigartigen Singspiel, »Spiel der Kräfte, ordo virtutae «, im »Brautgemach des Königs«, also in tiefer Verbundenheit mit Christus wieder. 11 Dieses Spiel ist in gewissemSinne Zeugnis einer Trauerarbeit, indem sie den geliebten Menschen als Verwandelten innerlich wiederfindet.
Seit Hildegard zu dem stand, was in ihr lebendig war, gewann sie immer größere Ausstrahlung und
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