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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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Darstellungen, die auf der legendär überwucherten Vita Hildegards beruhten, nach der bereits das achtjährige Mädchen nach dem Willen der Eltern zu der dort viel älter erscheinenden Meisterin Jutta auf den Disibodenberg gebracht und dort »eingemauert« worden sei. Die ältere Darstellung diente der Dramaturgie eines Heiligenlebens, dramatisierte den Vorgang und damit die Lebensgeschichte der kleinen Hildegard.
    Auch die historisch wahrscheinlichere Wirklichkeit, wie wir sie heute sehen, war noch dramatisch genug, löste sie doch die vierzehnjährige Hildegard gänzlich aus den Zusammenhängen ihrer Familie und einer altersgemäßen Entwicklung in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht, wenn auch die Freundschaft der drei Mädchen untereinander emotional einiges aufgewogen haben mag. Doch wählten sie als Klausnerinnen eine gewisse Abgeschiedenheit, die ihrer Sehnsucht nach Nähe zu Gott entsprach. Diese Entwicklung vertiefte andererseits die durchaus altersgemäße Introversion, zu der bei Hildegard der Ausbau ihrer reich entwickelten spirituellen Innenwelt gehörte, das intensivierte und inspirierte Lauschen auf ihre Audiovisionen, die sie immer bewusster religiös interpretierte.

    Die kleine Frauenkommunität auf dem Disibodenberg um Jutta von Sponheim, der sie angehörte, entwickelte sich immer mehr zu einem benediktinischen Konvent, in den Hildegard mit sechzehn Jahren offiziell eintrat. DerKonvent entwickelte eine wachsende Anziehungskraft für weitere Schwestern und vergrößerte sich zusehends. Hildegard nahm zusammen mit ihren Gefährtinnen täglich am lateinischen Chorgebet und am Gottesdienst der Benediktiner vom Disibodenberg teil, dem der Frauenkonvent angeschlossen war, lernte mit der Liturgie zugleich Latein und die Bibel kennen, Psalmen vor allem, aber auch das Hohe Lied, dazu die täglich gesungene gregorianische Musik, durch die sie zu eigenen Gesängen, Liedern und Hymnen im Chorgebet inspiriert wurde, die letztlich durch den Tonumfang und kühne Sprünge in der Tonfolge, durch eine frei schwingende, lianenartige Melodik die Grenzen der Gregorianik sprengten. 5
    Die geistig hellwache Hildegard gewann unter den Mönchen des Disibodenbergs zugleich einen älteren Bruder und einen väterlichen Freund, Volmar, der sie, wie wir aus Hildegards vergleichsweise hohen Bildungsstand schließen können, in die Bibliothek der Abtei, also in die Werke der Kirchenväter und auch in die damals geschätzte griechische Philosophie samt Naturkunde und Medizin einführte. Sowohl der Chorgesang mit seinen biblischen Texten wie auch die Einblicke in die damalige geistige Tradition formten Hildegards Geist und drangen zugleich tief in ihr Unbewusstes ein, so dass entsprechende Vorstellungsbilder und Symbole – darunter sogar Bilder aus der jüdischen und islamischen Mystik 6 – in ihren Audiovisionen wiederkehren, dort allerdings in ihr Eigenes hineinverwandelt. Immer mehr umkreisen ihre Meditationen und Imaginationen die Welt der Bibel und der »Heilsgeschichte«, die sich schließlich zu einer selbsterfahrenen Schau verdichten, die auch die damalige kirchenpolitische Situation der Christenheit und Zukunftsvisionen einschließt. Über ihre innere Schau teilt sie sich ausschließlich ihrem geistlichen Mentor Volmar, ihrer Meisterin Jutta von Sponheim und nach deren Tod, nachdem Hildegardselbst zur Meisterin des Konvents erwählt worden ist, nur einer jüngeren, vertrauten Mitschwester, Richardis von Stade mit.
    Es war ein gewaltiger Einschnitt in Hildegards spiritueller Entwicklung, als sie sich in ihrem 42. Lebensjahr, von ihrer inneren Stimme gedrängt, entschloss, die Visionen der letzten Jahre und die aus ihnen geschöpfte theologische Erkenntnis in einem Buch zu veröffentlichen, das sie Scivias , »Wisse die Wege«, nennen sollte.
    Es gab für sie als Frau ohne theologische Ausbildung, von der die Frau damals generell ausgeschlossen war, keinen anderen Weg, sich in der kirchlichen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, als unter Berufung auf direkte Offenbarung durch den Heiligen Geist, wie sie ihr in den Visionen zuteil wurde. Damit wiederum aber war in der damaligen Zeit die Möglichkeit ihrer Verketzerung und Verdächtigung auf Besessenheit durch unheilige Geister mit eingeschlossen. Es erforderte außergewöhnlichen Mut, sich an solch eine Veröffentlichung zu wagen. Hildegard erfuhr sich hier – wie auch an anderen Stellen ihres Lebens – von schweren psychosomatischen Erkrankungen heimgesucht,

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