Mystik des Herzens
schwebt an Stelle einer Theo-logie, die »Gott« mit Hilfe des Logos zu fassen sucht, eine Theo-Poesie vor, die Gott mit Hilfe des poetisch verdichteten Wortes umkreist, in Sprach-Bildern, die auch bei ihr aus der Meditation erwachsen. In dem Gedicht »Konzentrationsübung« zeigt sie durch Meditationsschritte mit dem Bild des Meeres einen Weg auf, sich innerlich immer mehr auf das Unendliche zu beziehen und es schließlich in sich einströmen zu lassen, mit ihm eins zu werden.
Mystikerinnen wissen, dass alle religiöse Sprache symbolische Sprache ist, die, ausgehend von den Phänomenen unserer Welt, z.B. von Naturphänomenen wie Garten, Baum und Meer auf eine Bedeutungsfülle stößt, einen Bedeutungsüberschuss, der über das einzelne Naturphänomen wie das Meer hinaus verweist auf Unendliches, Grenzüberschreitendes, Transzendentes. Auch die Rede von »Gott« ist symbolische Rede: bei den Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte noch stärker von einer allgemein anerkannten Bedeutsamkeit getragen, als das heute möglich ist. »Gott« ist heute wie immer das Heilige in unserer Welt, das, was uns »unbedingt angeht« (Paul Tillich), das, was aller Verehrung, Liebe und Hingabe wert ist. – Dies personal Heilige wie ein Gegenüber anzusprechen, auch wenn es um Unendliches geht, wie die Mystikerinnen es tun, das heißt nicht mehr und nicht weniger als unserer menschlichen Konstitution Rechnung zu tragen, der alles zum Du wird – auch der Baum, der Garten, das Meer –, dem wir wirklich und personal begegnen, in Aufmerksamkeit, Liebe und Hingabe. Zugleich kann es sich in dieser Begegnung weiten, entgrenzen, zum Gleichnisdes Großen und Ganzen werden, dem wir uns verdanken und das uns bewirkt. Das ist mystische Erfahrung, wie sie jeder und jedem offen steht.
Dorothee Sölle war vor allem an einer »Demokratisierung der Mystik« gelegen, einem Zugang für alle zu ihr: Über Naturbegegnung, über die Erfahrung tiefen Leids und tiefer Freude, über Liebesbegegnung und die Erfahrung von Endlichkeit und Tod sah sie Brücken und Zugangswege zur Mystik.
Ich habe die Mystikerinnen für dieses Buch ausgewählt, die mir selbst in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf verschiedenen Wegen nahe gekommen sind, ohne Systematik: ihre Zugangswege sind Imagination und Schau, wie bei Hildegard von Bingen, ist die Liebe, wie bei Marguerite Porète, ist die Stille der Kontemplation als ein Kraftfeld, aus dem tätige Initiative erwächst, wie bei Teresa von Avila, ist andererseits schicksalhaftes Leiden, als »Kreuzeswissenschaft«, wie bei Edith Stein und schließlich ist es die unlösbare Verbindung von »Mystik und Widerstand«, auch im politischen Sinn, wie bei Dorothee Sölle, und dazu die Möglichkeit, auf eine neue Weise von Gott zu sprechen, einer Theo-Poesie.
Nach den Kapiteln, die Leben und Wirken der ausgewählten fünf Mystikerinnen in ihrer jeweiligen Zeit beschreiben, füge ich im letzten Teil des Buches einige spezielle Übungen an, die den besonderen Zugang zur mystischen Erfahrung, den die einzelnen Frauen erschlossen haben, zugänglich macht.
Erstes Kapitel: »Die Seele ist wie ein Wind« – Hildegard von Bingen (1098–1179)
Erstes Kapitel
»Die Seele ist wie ein Wind«
Hildegard von Bingen (1098–1179)
Durch eine für das 12. Jahrhundert selten gute Quellenüberlieferung – auch eine in den wesentlichen Teilen von Hildegard von Bingen selbst verfasste Vita 1 – haben wir Kenntnisse über ihre wesentlichen Lebensstationen: Sie lebte von 1098 bis 1179, in einer spannungsreichen Zeit, in die z.B. die Regierungszeit Kaiser Friedrich Barbarossas fiel. Auch war sie Zeitgenossin des großen Klosterreformers und Mystikers Bernhard von Clairvaux, des spirituellen Mentors des damaligen Europa. Auch in ihrem Leben wird er eine bedeutende Rolle spielen.
Schon bei dem kleinen Kind, dem zehnten Kind der Mechthild und des Hildebert von Bermersheim, zeigte sich eine eidetische und audiovisuelle Begabung, die das Mädchen, das auf dem elterlichen Rittergut zwischen Wiesen, Weinbergen, Wäldern und Flüssen, verbunden mit den Tieren aufwuchs, nachdenklich machte und ihm auch manchmal schmerzhaft seine Besonderheit zeigte. So berichtet sie glaubwürdig:
»In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern … Und bis zu meinem 15. Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzählte ich einfach, so dass die, die es hörten, sich
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