Mystik des Herzens
Anziehungskraft. Ihr Konvent wuchs so stark, dass er die räumlichen Möglichkeiten der Klause bald zu sprengen drohte, so dass Hildegard – nicht ohne schweren Konflikt mit dem Disibodenberger Männerkloster, das die berühmt gewordene Frau nicht mehr wegziehen lassen wollte – zunächst am Rupertsberg bei Bingen ihr eigenes Kloster erbauen ließ, zu dem später auch noch das Kloster Eibingen jenseits des Rheins kam. Zarteste Seiten kamen bei dieser Frau mit großer Tatkraft zusammen, wenn wir nur bedenken, was es im 12. Jahrhundert bedeutete, eine Abtei erbauen zu lassen, was zunächst mit der Rodung des Waldes begann, der das ganze Baugelände bedeckte. Als Äbtissin und Seelsorgerin stand sie ihrem Frauenkonvent vor, dazu war sie Beraterin, auch in gesundheitlicher Hinsicht, für zahlreiche Menschen im Umkreis. Sie stand im Briefwechsel mit halb Europa, wo man sich vom Bischof bis zur einfachen Frau seelsorgerlichen Rat bei ihr einholte. 12 Viele Klostergemeinschaften suchten bei ihr – wie der Briefwechsel nachweist – so etwas wie Supervision, wie man dies heute nennt, in ihren Konflikten untereinander. Nachweislich hatte sie Kontakt zu Kaiser Friedrich Barbarossa, dessen geistigen Rang sie schätzte, dessen Regierungsgeschäfte sie dennoch mehrfach kritisch kommentierte, was er offenbar sogar akzeptierte, indem er ihrem Kloster z.B. einen Kaiserlichen Schutzbrief ausstellen ließ, der ihr bei den zahlreichen Lokalkriegen jener Zeit sehr zustatten kam. Als er im Zuge des Investiturstreites Gegenpäpste einsetzte, redete sie ihm im Auftrag Gottes leidenschaftlich ins Gewissen.
An der Geistesklarheit und kommunikativen Kompetenz dieser Visionärin kann kein Zweifel bestehen. Auchverwechselte sie ihr menschliches Ich nie mit den transpersonalen Bildern und Gestalten, die ihr in ihrer Schau begegneten, eine Unterscheidungsfähigkeit, die bis heute als ein Kriterium dafür gilt, dass keine Psychose vorliegt. An sich ist die visionäre Begabung eine natürliche Gabe, die zwar selten, aber doch immer wieder einer Anzahl von Menschen gegeben ist. Erst Inhalt und Interpretation machen Schauungen zu dem Bedeutsamen, was sie über die Bedeutung für die visionär begabte Einzelperson hinaus sind. Visionen können, wie alle menschliche Erfahrung, auch egozentrisch und inflationär verstanden und gebraucht werden. Was wir auch als weniger visionär begabte Menschen von Hildegard lernen können, ist dies: den auch uns zugänglichen Weg zu inneren Bildern, den Weg der Imagination zu schätzen, den Zugang zur Religion über Bild und Symbol zu verstehen. Alle religiöse Sprache erweist sich letztlich als symbolische Sprache.
Hildegard blieb Visionärin von ihrer Jugend an bis ins hohe Alter und vermochte von der Mitte ihres Lebens an ihre Schau durch die Niederschrift ihrer ethischen, medizinischen und auch musikalischen Werke einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. 13
In ihren Siebzigerjahren schrieb sie ihr bedeutendstes Werk, das liber divinorum operum 14 , eine einzige gewaltige Vision des Kosmos und der Stellung des Menschen, eines Mikrokosmos in ihm. Der Mensch gilt ihr als schöpferisches Glied, das mit dem Ganzen, mit allen Geschöpfen und Schöpfungskräften, vor allem aber mit dem Schöpfer selbst auf einzigartige Weise verbunden und vernetzt ist. Aus dieser Stellung des Menschen in kosmischer, geschwisterlicher Nachbarschaft zu allem, zu Umwelt und Mitwelt, leitet sie ihre Ethik 15 und auch ihre Gesundheitslehre 16 ab.
Spirituell aufgeschlossene Frauen von heute betrachten Hildegard von Bingen als eine ihrer frühen Wegweiserinnen:Dies zeigte sich an einer kleinen Begebenheit: Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal den mutmaßlichen Ort der Klause auf dem Disibodenberg besuchte, an dem die 14-jährige Hildegard damals einzog und wo sie später am Scivias zu schreiben begann, da überraschte mich ein frisch gepflanzter Rosenstock am Mauerwerk wie auch ein neu angelegtes Labyrinth auf dem Rasen. Das seien Frauen gewesen, sagte man mir, solche Frauen, die sich Hildegard bis heute verbunden fühlten als einer »Schwester der Weisheit« (so Hildegard in einem ihrer Lieder).
Hildegards Aktualität zeigte sich im Gedenkjahr ihrer Geburt, 1998, auf das Schönste und Überraschendste. Eine Fülle neuer Literatur, sowohl als Hinführung für interessierte Laien wie auch als Weiterführung wissenschaftlicher Forschung ihres Werkes, erschien in diesem Jahr. Eine Unmenge von Menschen, als Pilger zu den
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