Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
stehen. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass Gii ihr folgte, aber einen möglichst großen Bogen um den Biestmann machte. Als sie sich dem Tor näherte, sah Mikki, dass die Rosen, die die Mauer bildeten, nur wenig gesünder waren als die kränklichen Rosen in den Gärten. Die meisten Blätter der Rispen-Rosen waren zwar noch grün, aber ein verstörend großer Teil hatte sich bereits gelb verfärbt. Hier und da gab es ein paar halbherzige rosa Knospen, aber keine der Blüten hatte sich geöffnet. Sie berührte einige Blätter, drehte sie vorsichtig um und suchte die Hecke ganz automatisch nach schwarzen Flecken und Insekten ab.
»Ich kann keine offensichtlichen Schäden durch Krankheiten oder Insektenbefall erkennen.« Sie seufzte und kaute auf der Unterlippe. »Genau wie die Rosen im Rest der Gärten sehen sie einfach nicht gesund aus.«
Der Wächter trat näher an sie heran. Auch er musterte die Rosenmauer. »Könnt Ihr sie heilen?«
»Natürlich«, sagte Mikki überzeugter, als sie sich fühlte. »Ich habe nie eine Rose getroffen, die mich nicht mochte.« Natürlich hatte sie es auch noch nie mit einer Mauer aus Rispen-Rosen zu tun gehabt, die dem Befehl einer leibhaftigen Göttin gehorchten, aber das zu erwähnen erschien ihr kontraproduktiv. »Am besten beginnen wir am Anfang und arbeiten uns von dort voran. Als Erstes müssen wir dafür sorgen, dass die Rosen gut gedüngt werden.«
In diesem Moment trug eine leichte Brise den Klang angeregt miteinander schwatzender Frauen an ihr Ohr. Der Wächter legte den Kopf schräg und witterte. Dann sah er Mikki an und hob die Augenbrauen.
»Du riechst bestimmt unseren Dünger. Was haben sie dabei, Fischköpfe oder Schweinemist?«, fragte Mikki.
»Schweinemist.«
Diesmal erkannte Mikki das amüsierte Glitzern in seinen Augen sofort.
»Gut!«, rief sie fröhlich aus.
»Ihr seid wirklich eine ungewöhnliche Empousa, wenn Schweinemist Euch so viel Freude bereitet.«
Sie grinste. »Das bin ich, und das tut es. Also los, machen wir uns an die Arbeit.«
Sein Lächeln entblößte sehr weiße, sehr spitze Zähne, und er verneigte sich vor ihr. »Ganz wie Ihr befehlt, Priesterin.«
Ohne darauf zu achten, dass Gii einen leisen Laut des Erstaunens ausstieß, neigte Mikki den Kopf – eine Geste, von der sie hoffte, dass sie die Anerkennung der Göttin ausdrückte. Dann wandte sie sich den näher kommenden Frauen zu und fing an, ihnen Anweisungen zu geben.
Für Frauen, die noch nie mit Rosen gearbeitet hatten, schlugen sie sich sehr gut. Mikki stand auf und streckte sich, wobei sie vorsichtig die Schultern kreisen ließ, um die Anspannung, die immer wieder in ihren oberen Rücken zurückkroch, zu lockern. Sie wischte sich die Hände an einer der hochgesteckten Ecken ihres Chitons ab und betrachtete ihre Umgebung.
Die Frauen waren über den ganzen Bereich der Mauer verteilt, den sie von ihrem Standpunkt aus sehen konnte. Diejenigen, die direkt an der Mauer arbeiteten, hatten drei verschiedene Aufgaben. Die erste Gruppe hob nahe an den Wurzeln der Rosen flache Gräben aus, die zweite kippte das organische Material in die Gräben, und die dritte bedeckte den Dünger mit der frisch ausgegrabenen Erde. Unablässig trugen die Frauen Eimer und Körbe zwischen ihrem Arbeitsplatz und den Stellen, wo sie Mist und Fischeingeweide sammelten, hin und her.
Und dann gab es noch eine Gruppe, die die Lehmerde aus dem Wald jenseits der Rosenmauer beschaffte und sie durch das Tor zu den Frauen trug, die dafür zuständig waren, sie um die Hecke herum aufzuschichten.
Mikki sah zu dem offenen Tor hinüber. Wie erwartet musste sie nur ein paar Sekunden warten, bis der Wächter auftauchte. Den ganzen Morgen war er unruhig auf der Waldseite der Mauer auf und ab gelaufen. Mit dem fast verspielten gegenseitigen Wohlwollen, das sich allmählich zwischen ihnen entwickelt hatte, war es abrupt vorbei gewesen, als Mikki darauf bestanden hatte, die Frauen in den Wald zu schicken, um die Lehmerde zu holen. Kurz gesagt war der Wächter stinkwütend auf sie gewesen.
»Es ist gefährlich, das Tor so lange offen zu lassen«, hatte er gegrollt, als sie ihm erklärte, dass sie den Lehm in die Körbe laden wollte.
»Die Rosen brauchen die Nährstoffe aus dem Waldboden. Also muss das Tor eine Weile offen bleiben, damit die Frauen die Erde holen können«, hatte Mikki mit klarer, furchtloser Stimme direkt vor den anderen Frauen argumentiert.
»Der Wald ist nicht sicher«, entgegnete er
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