Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
hier vor ihr stand.
Die Gestalt war riesig, mindestens zwei Meter groß, und menschlicher als Minos’ Minotaurus, aber die stärkere Ähnlichkeit mit einem Mann machte sie nicht weniger eindrucksvoll. Obwohl das Wesen auf dem breiten, elegant gemeißelten Marmorsockel kauerte, ragte er hoch über Mikki auf. Seine Beine waren muskulös wie die Beine eines Weltklasse-Sprinters, jedoch von einem dichten Pelz bedeckt, und endeten in gespaltenen Hufen. Seine Hände waren massig, und die Finger bogen sich klauenartig um den oberen Rand des Podestes. Die ausgeprägten Muskeln in Armen, Schultern und Hüften waren angespannt, als würde die Kreatur zum Sprung ansetzen. In seinem Gesicht waren keine klaren Züge zu erkennen, fast so, als wäre der Bildhauer nicht fertig geworden. So sah es zwar entfernt aus wie das Gesicht eines Mannes, wirkte aber gleichzeitig wild und bedrohlich. Seine Augen waren ausdruckslos, unbehauener Marmor unter dicken, dunklen Brauen. Ein Biest, ja, aber in der Haut eines Menschen. Nicht wirklich ein Bulle, aber durchaus etwas stierähnlich. Der Bildhauer hatte die Haare der Kreatur auf eine Art gemeißelt, dass es aussah, als würden sie von einem starken Wind nach hinten geweht, und so sah man deutlich die gewaltigen spitzen Hörner, die aus seinem Schädel ragten.
Die Erkenntnis traf Mikki wie ein Schlag. Die Statue hatte Hörner! Wie die Kreatur in ihrem Traum letzte Nacht! Vielleicht hatte der Traum hier seinen Ursprung. Bei dem Gedanken hätte sie sich am liebsten gegen die Stirn geschlagen. War der Grund für ihre Besessenheit wirklich so simpel? Sie hatte die Gärten immer geliebt, vor allem diese Ebene. Und sie hatte schon immer eine lebhafte Phantasie gehabt – wenn ihre Mutter noch am Leben gewesen wäre, hätte sie das sofort erwähnt. Wie oft hatte ihre Mutter sie ermahnen müssen, die Tagträumerei sein zu lassen und ihr Zimmer aufzuräumen … oder ihre Hausaufgaben zu machen … oder das Geschirr abzuwaschen?
Nelly hatte recht gehabt. Wieder einmal. Mikkis Träume in letzter Zeit waren wahrscheinlich nichts anderes als ein Spiegelbild ihrer Liebe zu den Rosen und zu allem, was mit ihnen zusammenhing. Und ihre Halluzinationen waren nur besonders authentische Tagträume eines müden – und eindeutig sexbesessenen – Verstands.
Dass sie ausgerechnet diese Statue in ihre Phantasien einbaute, zeigte allzu deutlich, was sie heute Abend schon einmal festgestellt hatte: In ihrem Leben gab es keinen einzigen begehrenswerten Mann.
Also waren ihre Träume wirklich nur das Produkt ihrer blühenden Phantasie.
Mikki spürte eine Welle der Enttäuschung, die sie aber schnell unterdrückte.
»Hättest du lieber einen basketballgroßen Gehirntumor?«, wies sie sich zurecht und kickte geistesabwesend einen losen Stein weg. »Und was sollte es sonst sein? Hast du gedacht, du hättest wirklich eine Art magisches Erlebnis? Dass ein Phantasie-Geliebter aus deinen Träumen in dein Leben treten würde? Das ist lächerlich. Reiß dich zusammen, Mädchen, und versuche, dich daran zu erinnern, warum du hier bist.«
Kopfschüttelnd wandte Mikki der Statue den Rücken zu und marschierte in Richtung der abgesperrten Baustelle. Hier hatte ein großer Teil der Terrassenmauer angefangen zu bröckeln, und die Steinmetze, die eingestellt worden waren, um sie zu reparieren, hatten strikte Anweisungen, nicht die Rosen zu beschädigen, die seit Jahrzehnten in den Beeten um die Mauer herum wuchsen.
Mikki stieß scharf die Luft aus, als sie die Baustelle erreichte. Genau wie sie vermutet hatte, lag überall Müll herum. Sie bückte sich unter dem gelben Absperrband hindurch und betrat das Beet, hob den Abfall auf, der die ordentlichen Reihen von Rosenbüschen verschmutzte, und stopfte ihn in eine leere Plastiktüte, die sich an den Dornen eines der Büsche verfangen hatte. Als sie die kleinen Plastikkühler in der Mitte des Beetes auf der Seite liegend vorfand, riss ihr der Geduldsfaden.
»Das ist doch eine verdammte Scheiße!«, platzte sie heraus.
Morgen war Samstag, und am Wochenende war die leitende Gärtnerin nicht da, aber gleich Montag früh würde Mikki sie anrufen und ihr berichten, dass die Bauarbeiter offensichtlich überhaupt nicht auf die Rosen geachtet hatten. Und morgen würde sie den ganzen Tag hierbleiben und aufpassen, dass diese Neandertaler nicht noch mehr Chaos anrichteten.
Als sie allen Müll eingesammelt hatte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Rosen selbst zu.
»O nein!« Ihr Magen
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