Mythor - 034 - Drachenflug
Männer aus den Steppensiedlungen schon hier wären«, murmelte er.
Aber er wusste, dass diese nicht vor Anbruch des Morgens kommen konnten – einmal ganz abgesehen davon, dass sie während der Nacht in ihren Siedlungen bleiben würden. Es war aussichtslos, auf schnelle Hilfe von außen zu hoffen. Sie mussten mit dem, was ihnen widerfuhr, selbst fertig werden.
Wieder tauchten Männer auf. Einer berichtete von dem tiefen Erdspalt, aus dem der Gestank gequollen war.
»Wie der faulige Atem eines Ungeheuers«, keuchte der Krieger aufgeregt.
Der Drache! durchfuhr es Achad. Es wurde also zur grausamen Wirklichkeit! Ghorogh, der Drache, erwachte!
»Bewaffnet euch und achtet auf alles, was aus der Spalte kommt! Erschlagt es, wenn es sich zeigt!« befahl der Cran. »Vielleicht haben wir eine Chance, solange es noch nicht zur Gänze an der Oberfläche erscheint.«
Der Cran wartete, bis die Männer sich entfernt hatten, dann verließ er den eingestürzten Silo. Die Schurketen mochten auch ohne ihn weiterarbeiten. Er musste wissen, was in Mythors Haus geschehen war. Mit raschen Schritten eilte er hinüber.
Ein paar Mannslängen hinter ihm sank eine Hauswand in sich zusammen, und aus der Tiefe kam ein urweltliches Grollen und Stöhnen.
*
Mistra schrie nicht mehr. Etwas in ihr war zerbrochen. Das Unheimliche, das bislang in Mythor gelauert hatte, um ihn zu verderben, war nun auf sie übergewechselt. Hätte sie noch ein winziges Fünkchen eigenen Bewusstseins besessen, hätte sie ihr Opfer vielleicht bereut. Doch sie besaß keinen eigenen Willen mehr. Das Böse, der Schatten, beherrschte sie. Und ihre Widerstandskraft war bei weitem nicht so groß wie die Mythors. Hinzu kam, dass der Schatten einen gewaltigen Vorteil besaß. Er hatte an Mythors Kräften gezehrt und war dadurch selbst stärker geworden, und diese Stärke besaß er nun auch in Mistra. Die junge Frau hatte keine Chance mehr. Sie hatte für die Errettung Mythors alles gegeben – ihre eigene menschliche Existenz.
Der Schatten war in ihr und fraß nun an ihrer Seele, um weiter zu wachsen und seiner unheilvollen Bestimmung näher zu kommen. Er besaß keine Intelligenz, wurde nur von bösartigen Instinkten gesteuert. Ihm war es egal, ob Mythor oder Mistra seine Beute waren. Er war mehr Ding denn Leben. Leben ohnehin nicht, eher ein Un-Leben.
Mistra kauerte in den Schatten der Häuser. Das Unheimliche in ihr zwang sie dazu. Nichts mehr erinnerte sie an das, was früher gewesen war, was sie noch vor wenigen Augenblicken gedacht und getan hatte. Es war verloren. Sie war verloren. Dafür war etwas anderes in ihr erwacht. Ihre Augen glommen unheilvoll auf, als sie ein warmes, blutvolles Wesen entdeckte, das blökend und verängstigt an ihr vorbeihuschte. Ein Grom!
Mistras knabenhaft schlanker Körper spannte sich. Dann schnellte sie sich vorwärts, direkt auf das Tier zu, das den Tod bereits spürte und laut blökte. Doch die Hirten waren weit und hatten andere Dinge zu tun.
*
Mythor öffnete bedächtig die Augen. Verwirrt sah er um sich. Seine ausgetrockneten Lippen öffneten sich. »Was ist geschehen?«
Er sah einen Mann vor sich, der vom Aussehen her in etwa Vierfaust glich. Aber er konnte nicht Vierfaust sein.
Mythors Erinnerung setzte voll ein. Er hatte sich Vierfausts Äußeres so genau eingeprägt, dass er ihn auch ohne die Vorstellungsgeste – das Vorstrecken der Faust mit verdecktem Daumen – jederzeit wiedererkennen würde.
Doch der Stumme Große, für den Mythor ihn hielt, stellte sich auf andere Weise vor. Hand vors Gesicht, Daumen aufs rechte Auge, Mittelfinger aufs linke Auge, Zeigefinger auf die Stirn wie auf ein drittes Auge… Sofort drängte sich Mythor wie vielen anderen vor ihm die Bezeichnung »Dreifingerauge« auf.
Mythors Hände kamen hoch. Er sah sie an, berührte dann mit den Fingern seine Augen. Unwillkürlich schüttelte er sich, als Erinnerungsfetzen in ihm aufzusteigen drohten. Er sah etwas unsagbar Schwarzes und wusste, dass es der Schatten war, der ihn besessen hatte. Und trotz seiner absoluten Schwäche zeichnete sich in ihm etwas ab, seltsame Muster und skurrile Bilder, die Mythor nicht begriff. Es schienen Bilder aus einer fremden Welt zu sein, schwarz in schwarz und doch zu erkennen, wenngleich auch nicht zu begreifen. Irgendetwas verwischte die Eindrücke, ließ sie in ihrer Fremdartigkeit unfassbar werden.
Das Eintreten eines Mannes riss Mythor aus seiner Erinnerung. Vierfaust kam! Der Stumme Große blieb vor dem Sohn
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