Mythos Ueberfremdung
zog – wie Bruce Bawer – nach dem 11. September eine scharfe Kehrtwendung, es zog ihn jetzt in die Gefilde des eher ätzenden (und lukrativen), mit Sarkasmus durchsetzten politischen Kommentars. Im Wall Street Journal, im kanadischen Nachrichtenmagazin Maclean’s, durch seine Blogs und in lockerem Tonfall verfassten Bücher schaffte er es in die Schlagzeilen, indem er die in Bat Ye’ors Werken aufgestellten Behauptungen durch griffige Formulierungen popularisierte (»Der Islam ist seinem Wesen nach ein politisches Projekt«) und eine atemberaubende Version der demografischen Behauptung hinzufügte. »Nach einigen Prognosen wird der muslimische Bevölkerungsanteil in den EU-Ländern im Jahr 2025 bei 40 Prozent liegen«, schrieb er in einem Artikel; in mehreren anderen Texten behauptete er, der Kontinent werde bis zum Jahrhundertende eine muslimische Mehrheit haben; in einem weiteren Beitrag vertrat er die Ansicht, dass »Europa seinem politisch-kulturellen Charakter nach innerhalb einer Generation halb islamisch sein wird« oder dass jeder Europäer »unter 40 Jahren – man kann auch 60, wenn nicht sogar 75 sagen – seine Tage nahezu garantiert in einem islamisierten Europa beschließen wird.«
Die Moderne habe Europa feminisiert und unterwürfig gemacht, trägt Steyn wiederholt vor, und diese Feminisierung habe es zu einem freiwilligen Abgang in die Nichtexistenz geführt. Er schreibt, die Muslime seien dazu bestimmt, die westliche Welt zu übernehmen, weil »sie sich ausgerechnet haben, dass unserer gesamten Zivilisation der Wille fehlt, sie zu vertreiben«. Steyns Werke gefielen Anders Behring Breivik, der sie in seinem Manifest mehrfach zitierte. Steyn ist zwar alles andere als ein Befürworter von Gewalt oder Militarismus, beschließt aber seinen Bestseller America Alone: The End of the World as We Know It mit einer Textpassage, in der er die apokalyptische Sprache des Norwegers vorwegzunehmen scheint: »Wir haben zu lange gekniffen, und das ist einer großen Kultur unwürdig. Die Abwehr des neuen finsteren Mittelalters wird eine harte und anspruchsvolle Aufgabe. Die Alternative wird schlimmer sein.«
Millionen von ansonsten gemäßigten und vernünftigen Menschen haben diese Bücher gekauft, gerne gelesen und in manchen Fällen auch ihre Argumente gelobt und wiederholt. Ich gehe davon aus, dass die meisten Leser dieser Autoren deren kunstvoll ausgeschmückte Verschwörungstheorien oder düstere Prognosen zur bevorstehenden Katastrophe nicht teilen. Sie suchen eher nach einer Darstellung, die ihnen helfen könnte, sich das verwirrende Erscheinungsbild erkennbar andersartiger muslimischer Gemeinschaften in ihren Städten ebenso zu erklären wie die nahezu gleichzeitig erfolgten Ausbrüche islamistisch motivierter Gewalt, die den Anfangsjahren dieses Jahrhunderts ihr Gepräge gaben. So wie ein auf übler Nachrede beruhendes Misstrauen gegenüber Katholiken und Juden in früheren Generationen von zahlreichen auf haltlosen Übertreibungen beruhenden Büchern genährt wurde, wirken diese vor der »muslimischen Flut« warnenden Werke auf die meisten Leser eher beruhigend, anstatt sie zu den Waffen zu rufen. Eine kleine Minderheit der Leserschaft ließ sich von ihnen jedoch zur Unterstützung einer neuen Art von Politik anregen.
1 Diese Initiativen waren weit davon entfernt, als Vorhut einer antiwestlichen Übernahme zu dienen. Israel lobte sie, Oberst Muammar Gaddafi denunzierte sie als Vorlage für den europäischen Imperialismus, und die türkische Regierung lehnte sie als Trick ab, mit dem ihr Land von einer EU-Mitgliedschaft ferngehalten werden solle.
III Die Parteien Eurabiens
A ls ich Geert Wilders zwei Jahre vor Breiviks Mordtaten in Den Haag besuchte, überraschte mich weder sein berüchtigtes Englisch noch sein berühmter blondierter Haarschopf, sondern sein Kunstgeschmack. Die Gemälde, mit denen er seine Büroräume im Parlamentsgebäude schmückte, entspra chen nicht dem, was man vom Vorsitzenden der radikal anti muslimischen Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid, PVV) erwarten würde. Das war nicht der heroische, zu Rei terbildern neigende Realismus eines erzkonservativen Revanchisten und hatte auch nichts von den reinen Abstrak tionen eines Anhängers der freien Marktwirtschaft. Nein, das war Hippie-Kunst, die Art von Rockmusik-Poster-Fantasma gorien, die unter den Anhängern der Samtenen Revolution beliebt waren, mit barbusigen, nackten Mädchen, die sich auf wundersame Weise in
Weitere Kostenlose Bücher