Mythos Ueberfremdung
experte der oppositionellen Fortschrittspartei und deren Vorsitzender im Bezirk Oslo, verfasste 2010 eine wütende Kritik an der Einwanderungspolitik des Landes, in der er muslimischen Einwanderern nachsagte, sie verfolgten »das Ziel, unserer Kultur einen Dolchstoß in den Rücken zu versetzen«, und davor warnte, ihre Anwesenheit werde »unser Land zerreißen«. Und dieser Text entstand, nachdem die Partei ihre radikale Anti-Einwanderungs-Fraktion ausgeschlossen hatte.
Das norwegische Massaker änderte nichts am Beliebtheitsgrad solcher Ansichten. Eine Woche nach Breiviks Mordtaten besuchte ich Arne Tumyr, einen rechten Aktivisten und ehemaligen Zeitungsredakteur, dessen Gruppe SIAN (Stoppt den Islam in Norwegen) auch von Breivik unterstützt wurde. Er sagte mir, dass er die Aufmerksamkeit begrüße, die die Anschläge für seine Sache geweckt hätten. »Natürlich haben wir nichts mit seinen Gewalttaten zu tun – er gehört keineswegs zu uns«, fügte er eilends hinzu. »Aber diese neue Debatte ist eine große Chance für uns, die Norweger mit der Wahrheit bekannt zu machen, und die lautet: Die Muslime praktizieren keine Religion, sie sind eine politische Fünfte Kolonne, deren Ziel es ist, unseren Teil der Welt zu übernehmen.«
Der zornige Banker
Keiner dieser politischen Präzedenzfälle konnte es mit dem seltsamen und überdimensionalen Phänomen Thilo Sarrazin aufnehmen. Diese höchst ungewöhnliche Persönlichkeit war zum Zeitpunkt ihres großen Auftritts Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, ein führendes Mitglied der SPD und ein Mann, der fast wie eine Karikatur strenger Berliner Mäßigung anmutete. Vielleicht eher aus diesem Grund als wegen des Inhalts wurde Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen zum meistverkauften politischen Buch in Deutschland seit der Wiedervereinigung, von dem nach dem Erscheinen Ende August 2010 in wenig mehr als drei Monaten 1,2 Millionen Exemplare abgesetzt wurden. Das ganze Geschehen lief letztlich darauf hinaus, dass ein Vertreter des angesehenen Teils der Linken eine Denkweise über religiöse Minderheiten effektiv wiederbelebt hatte, die sechs Jahrzehnte lang aus dem politischen Gedankengut der Deutschen verbannt gewesen war.
Sein Bestseller begann mit den einschlägig bekannten Thesen der Eurabien-Literatur, nichts wird ausgelassen, auch nicht der Niedergang des Westens. »Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar«, schrieb Sarrazin. »Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird.« In Interviews legte er nach und bezichtigte vier Millionen Menschen türkischer Herkunft der Verschwörung: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.« Die in Deutschland lebenden Türken kamen selbstverständlich nicht als Eroberer, sondern wurden – seit Ende der 1950er-Jahre – dazu eingeladen, dem erheblichen Mangel an un- und angelernten Arbeitskräften abzuhelfen. Und dann, nachdem man die Zuwanderer gebeten hatte, zu bleiben und sich niederzulassen, verweigerte man ihnen fast 40 Jahre lang die Einbürgerung, bis das Staatsbürgerschaftsrecht im Jahr 1999 reformiert wurde. Die Türken, die sich in anderen Ländern gut in die Wirtschaft und das Bildungssystem integriert und mühelos die Staatsbürgerschaft erworben haben, hatten aus diesem Grund in Deutschland Schwierigkeiten. 2 Und außerdem haben sie, wie wir noch sehen werden, keine besonders hohen Geburtenraten.
Sarrazins Werk unterschied sich jedoch von den Regalmetern geistesverwandter Bücher durch die Art und Weise, wie er es mit Theorien von rassisch bedingter Überlegenheit durchwirkte. Er sagte zwar nicht explizit, dass Muslime genetisch unterlegen seien, referierte aber in einer gewissen Ausführlichkeit, dass Juden (die er eher als Rasse denn als multirassische Religionsgemeinschaft oder Kultur wahrnimmt) christlich geprägten Deutschen überlegen seien, denn ihre offensichtlich höheren IQ-Werte seien nicht erziehungs- oder kulturell bedingt, sondern, wie er ausführt, teilweise im Erbgut angelegt. Es blieb zwar der Fantasie der Leserschaft überlassen, wo nun die
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