Mythos Ueberfremdung

Muslime auf dieser Leiter der geistigen Fähigkeiten ihren Standort hatten, aber die Wortwahl ließ wenig Spielraum für Zweifel. Sein Kapitel zur »Demografie und Bevölkerungspolitik« trägt den Unter titel »Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist«, und das berühmteste Zitat aus diesem Buch verkündet, dass die Deutschen es »als unvermeidlich hin[nehmen], dass Deutschland kleiner und dümmer wird«, indem sie die Türken in ihr Land ließen.
    Welche Auswirkungen hatte Sarrazins Buch auf die deutsche Politik? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. »Selten hat ein Mann den deutschen Diskurs so beeinflusst wie Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab«, schrieb der Spiegel im September 2010. Aber wie dieser Einfluss aussah, ist ungewiss. Er schied als Bun desbank-Vorstandsmitglied ohne Abfindung aus, aber die SPD warf ihn nicht aus der Partei. Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte die Popularität des Buches für ein paar vage Erklärun gen zum Islam und zur Einwanderung und für eine Distanzierung vom Multikulturalismus, die Furore machte (obwohl dieser in Deutschland nie praktiziert oder befürwortet worden war). Und beide große Volksparteien räumten letzt lich ein, dass Deutschland Millionen von Einwanderern und ihre Nachkommen in einem Niemandsland ohne Staats bürgerrechte festhielt und dass das Land zuguns ten der nächsten Einwandererwelle in geeignete Integra tionsprogramme und Initiativen zur Erlangung der Staats bürgerschaft investieren müsse. In diesem Sinn mag das Buch Deutschland genützt haben. Aber Sarrazin wirkte auch – aufgrund der Popularität seines Buches und wegen seines Ansehens in breiten Bevölkerungskreisen – daran mit, eine Reihe von falschen Vorstellungen im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Das Buch Deutschland schafft sich ab stieß zwar wegen der darin vertretenen Haltung wie auch wegen seines Tons auf massive Kritik, aber die Medien gaben sich nur wenig Mühe, seine falschen Behauptungen über muslimische Einwanderer, ihre Geburtenrate und den Grad ihrer Integration zu korrigieren.
    Als dieses Buch auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand, brach auf der anderen Seite des Atlantiks eine sehr ähnliche Kontroverse aus.

IV Eine sehr amerikanische Invasion
    I n der Familie Aoude gab es nichts, was die Aufmerksamkeit der ganzen Nation hätte auf sich ziehen können. Die 25 Jahre alte Nawal Aoude arbeitet als Atemtherapeutin, und sie und ihr Ehemann Nader, ein 35-jähriger Arbeiter im öffentlichen Dienst, verbringen in Dearborn, Michigan, ihren Alltag mit den üblichen Tätigkeiten und Gewohnheiten des Lebens in einem amerikanischen Vorort: Football, Joggen, Amateur theater, Religion, Familie, Hypothekenzahlungen, Arbeit. Das bedrohlichste Ereignis in ihrer beider Leben war im August 2011 die etwas schwierige Geburt ihres Sohnes Naseem gewesen.
    Naders Vater war vor einigen Jahrzehnten aus dem Libanon eingewandert und arbeitete in der Autoindustrie von Detroit, ohne irgendeine Art von auffälliger Diskriminierung erdulden zu müssen. Nader und Nawal, zwei vollständig integrierte amerikanische Staatsbürger, hatten keinen Grund, Erfahrungen dieser Art zu fürchten.
    Zum Jahresende 2011 wurden sie jedoch zu Zielscheiben einer organisierten landesweiten Attacke. Das Ehepaar hatte zu einem früheren Zeitpunkt dieses Jahres einem Fernsehproduzenten gestattet, in seinem Haus Aufnahmen für eine Dokumentarserie zu machen, All-American Muslim, die im Kabelsender The Learning Channel das häusliche Alltagsleben mehrerer arabisch-amerikanischer Familien in Dearborn zeigen wollte. Eine Episode protokollierte die Geburt von Naseem und die damit verbundenen Ängste und Aufregungen.
    Die Florida Family Association, eine evangelikale Gruppe, eröffnete die Angriffe, rief zum Boykott auf und prangerte die Sendung als Teil einer islamistischen Verschwörung an. »All-American Muslim ist Propaganda, die eindeutig darauf abzielt, berechtigten und aktuellen Sorgen wegen zahlreicher Muslime entgegenzuwirken, die islamischen Fundamenta lismus und das Scharia-Recht befürworten«, erklärte David Caton, der bekehrte Pornografiesüchtige und evangelikale Kreuzzügler, der die Familiy Association leitet. »Die Sendung porträtiert nur Muslime, die wie ganz normale Menschen wirken, nicht gezeigt werden dagegen die vielen islamischen Gläubigen, deren Lebensthemen eine eindeutige und aktu elle Gefahr für Freiheiten und traditionelle Werte darstellen, die