Mythos Ueberfremdung
gesamten erwachsenen Bevölkerung Frankreichs, die sich als religionslos bezeichnen. Und bei der Gruppe, die sich zur Religion bekannte, erklärten 28 Prozent der Muslime, sie würden »nie beten«, bei den Katholiken waren es 38 Prozent. Fast niemand unter den französischen Muslimen schickt die eigenen Kinder in separate islamische Schulen, und das trotz eines 2004 erlassenen Gesetzes, mit dem das Tragen religiöser Symbole – einschließlich des muslimischen Hidschab – in öffentlichen Schulen verboten wurde. Vielmehr sagten 42 Prozent der französischen Muslime, sie seien für dieses Verbot. 4 Diese Einwanderer haben sich in jeder Hinsicht dafür entschieden, mit ihrer Religion auf eine typisch französische Art umzugehen.
Ein Vergleich dieser Ergebnisse aus Frankreich mit den in den Vereinigten Staaten ermittelten Daten ist eine interessante Angelegenheit. In den USA erklärten 49 Prozent der Einwanderer muslimischer Herkunft, sie würden sich zunächst als Muslime verstehen und erst danach als Amerikaner. Und 69 Prozent sagen, Religion sei »in ihrem Leben sehr wichtig«, während stolze 47 Prozent behaupten, jeden Freitag in die Moschee zu gehen, was einem Mehrfachen des in Frankreich erhobenen Anteils entspräche.
Aber diese Zahlen sind nahezu identisch mit allgemeinen Trends unter den Amerikanern, die zu ausgeprägter Religiosität neigen: 46 Prozent aller amerikanischen Christen (und 70 Prozent aller Evangelikalen) bekennen, sie sähen sich selbst »zuerst als Christen« und dann als Amerikaner. Und 70 Prozent der Christen – 1 Prozent mehr als bei den Muslimen – sagen, Religion sei »in ihrem Leben sehr wichtig«, während 45 Prozent allsonntäglich am Gottesdienst teilnehmen. Mit anderen Worten: Die amerikanischen Muslime zeigen ein nahezu identisches Maß an religiöser Praxis und Identifikation wie ihre christlichen Mitbürger. Zu Fragen der Auslegung des Korans erklären nur 37 Prozent der US-Muslime, es gebe »nur eine richtige Auslegung« ihrer Religion. Diese Quote liegt nicht viel höher als bei den amerikanischen Christen, von denen 28 Prozent der Ansicht sind, es gebe nur eine Art, die Lehren der Bibel auszulegen. Und 63 Prozent der amerikanischen Muslime vertreten die Auffassung, es bestehe »kein Konflikt zwischen einem Leben als frommer Muslim und dem Leben in einer modernen Gesellschaft« – bei den amerikanischen Christen sagen dies 64 Prozent der Gläubigen. 5
Ziemlich außergewöhnlich ist die Tatsache, dass volle 62 Prozent der amerikanischen Muslime meinen, es könne »eine Existenzmöglichkeit für den Staat Israel gefunden werden, bei der die Rechte der Palästinenser gewahrt werden« – eine Quote, die um ein Mehrfaches höher ist als bei Meinungsumfragen im Nahen Osten. Sie ist nicht viel niedriger als bei den Amerikanern insgesamt, von denen 67 Prozent diese Aussage unterstützen. Nur 16 Prozent der US-Muslime und 12 Prozent aller befragten Amerikaner sind der Ansicht, dass die Existenz Israels die Palästinenser ihrer Rechte beraubt. Im Gegensatz dazu bejahen 80 Prozent der Ägypter und Jordanier, 45 Prozent der Türken und 59 Prozent der Libanesen diese These. Muslimische Einwanderer lassen also selbst beim hochbrisanten Thema der israelisch-palästinensischen Beziehungen die in ihren Heimatländern gängigen Ansichten hinter sich und schließen sich dem amerikanischen Mainstream an. 6
Die französischen Muslime wiederum scheinen ebenfalls – und trotz ihrer Nähe zur arabischen Welt – mit der in ihrer neuen Heimat gängigen Sicht auf den Nahen Osten übereinzustimmen. Bei Meinungsumfragen wird zwar bei französischen Staatsbürgern arabischer oder türkischer Herkunft eine knappe Mehrheit mit einem negativen Israel-Bild festgestellt (52 Prozent), aber dieser Anteil liegt sogar noch niedriger als bei den Franzosen insgesamt. 7
Und das gilt nicht nur für die Politik: Die einheimische Kultur des neuen Heimatlandes behält bei jeder beliebigen Zahl von Fragen, bei denen wir erwarten würden, dass sich die muslimischen Einwanderer von religiösen Lehren leiten lassen, die Oberhand. Zum Beispiel beim Thema Homosexualität. 39 Prozent der Muslime in den Vereinigten Staaten sagten 2009, sie sollte akzeptiert werden. Diese Akzeptanzquote ist zwar niedriger als bei der gesamten amerikanischen Öffentlichkeit (58 Prozent), zeigt aber eine deutliche Zunahme gegenüber den 27 Prozent, die bei denselben Muslimen vier Jahre zuvor verzeichnet worden waren. Von den in den USA
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