Mythos Ueberfremdung
Staatsphilosophie erschienen ließen und nicht als individuell motiviert; dass viele Imame das uneingeschränkte Befolgen als einzige Option präsentierten, die dem Gläubigen offenstehe; dass der Islam, so wie er in der Schriftform dargelegt werde, nicht zulasse, dass es eine Vielfalt von Auslegungen, moderate oder reformorientierte Schulen oder eine von der Religion getrennte weltliche Denkart gebe.
Das Problem mit diesem Argument ist, dass Religionen sich nicht in einer heiligen Schrift oder einem Dogma manifestieren, sondern im tatsächlichen menschlichen Verhalten, das selbst bei frommen Menschen oft in dramatischem Gegensatz zu dem steht, was die heilige Schrift sagt. Das Judentum ist, jedenfalls nach der Papierform, ein geschlossener und hermetischer Glaube, der die Möglichkeit reformerischer oder liberaler Interpretationen ebenso verneint wie die Tatsache, dass die meisten heutigen Juden nicht religiös sind. Das Christentum befiehlt seinen Anhängern – wie jeder Fundamentalist bestätigen wird –, Gottes Gesetze, so wie sie in der Heiligen Schrift offenbart werden, über die Gesetze der Menschen zu stellen, selbst dann, wenn für die Nichtbefolgung der Letzteren ein Preis zu bezahlen ist. Katholiken wird von der Amtskirche nicht die Möglichkeit eingeräumt, die Lehren der Kirche selektiv zu befolgen, dennoch besteht die überwältigende Mehrheit der Mitglieder dieser Konfession in den westlichen Ländern aus dezidierten »Selbstbedienungskatholiken«, die sich die zu ihrer Lebenseinstellung passenden Lehren selbst aussuchen.
Praktizieren die muslimischen Einwanderer in den westlichen Ländern einen solchen »Selbstbedienungsislam«, der zu der Wertewelt passt, die sie umgibt? Nehmen sie die westlichen Werte auf, oder sind sie ausschließlich islamische Gläubige, die nun einmal im Westen leben?
Eine Möglichkeit, dies herauszufinden, ist, sie einfach zu fragen. Eine andere besteht darin, ihre Ansichten und Hand lungen in Bereichen der Moral und des Verhaltens zu prüfen, die sie zwingen, sich zwischen einer religiösen oder einer staatsbürgerlichen Weltsicht zu entscheiden. In den letzten Jahren haben glücklicherweise einige der angesehensten Forschungsinstitute der Welt mehrere groß angelegte Untersu chungen zu den Ansichten und zum Verhalten von Muslimen in westlichen Ländern vorgenommen. Viele davon konzentrierten sich auf Fragen zum Gegensatz zwischen religiöser und nationaler Loyalität.
Wir beginnen in Frankreich, wo vier von zehn Befragten das Gefühl haben, dass »die meisten Einwanderer eine Kultur haben, die von der französischen zu verschieden ist, um eine Integration in die französische Gesellschaft zuzulassen«. 1 Und die Einwanderer aus muslimischen Ländern in Frankreich identifizieren sich tatsächlich stärker mit ihrem religiösen Glauben als die übrigen Bürger Frankreichs – aber sehr viel weniger als die Bewohner muslimischer Länder. Im Jahr 2006 erklärten 42 Prozent der französischen Muslime, sie fühlten sich »zunächst als Franzose und dann als Muslim«, während 46 Prozent dies umgekehrt sahen. Dieselbe Untersuchung stellte fest, dass sich zwischen 77 und 79 Prozent der Muslime in arabischen Ländern zunächst über die Religion definierten, sodass in Frankreich nach der Einwanderung also eine deutliche Verschiebung festzustellen ist – weg von der religiösen und hin zur nationalen Identität. 2 Dennoch bedeutet das, dass fast die Hälfte der muslimischen Einwanderer in Frankreich (von denen wiederum nur die Hälfte das volle Bürgerrecht erworben hat) sich nach wie vor eher über ihre Religionszugehörigkeit definiert. Prägt diese religiöse Identität ihre Überzeugungen und Handlungen? In dieser Hinsicht scheint die säkulare französische Gesellschaft einen dramatischen Einfluss auf die Muslime ausgeübt zu haben.
Wie auch immer es um das Selbstbild bestellt sein mag, die überwiegende Mehrheit von Frankreichs 5 Millionen Muslimen praktiziert ihre Religion nicht: Untersuchungen der französischen Regierung belegen, dass 8 bis 15 Prozent von ihnen regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen, und weniger als 5 Prozent gehen jeden Freitag in die Moschee – das entspricht in etwa den 9 Prozent der französischen Katholiken, die einmal in der Woche zur Messe gehen. 3 20 Prozent der französischen »Muslime« (das heißt: Personen muslimischer Herkunft) erklärten sogar, keiner Religion anzugehören – das sind nicht viel weniger als die 28 Prozent der
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