Mythos Ueberfremdung
Muslimen im Jahr 2008 sprachen sich 75 Prozent der Befragten »gegen die Einführung« der Scharia aus, während 37 Prozent erklärten, »einige Elemente der Scharia könnten angewendet werden, wenn sie dem französischen Recht angepasst würden«. Und 17 Prozent vertraten die Ansicht, die Scharia sollte in allen Ländern gelten.
Die Denkfabrik Policy Exchange stellte 2007 bei einer Umfrage unter britischen Muslimen ein ganz ähnliches Meinungsbild fest. Auf die Aussage »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich in Großbritannien lieber nach der Scharia als nach britischem Recht leben«, reagierten 75 Prozent der Muslime über 45 Jahre mit der Bevorzugung des britischen Rechts, wobei dieser Anteil bei den 35- bis 44-Jährigen auf 63 Prozent und bei den unter 30-Jährigen auf knapp über die Hälfte zurückging. 12
Mit anderen Worten: Eine alarmierend hohe Zahl von Menschen ist der Ansicht, dass der Religion gegenüber dem weltlichen Recht der Vorrang gebührt, auch wenn diese Menschen nur eine Minderheit innerhalb einer Minderheit sind. Aber diese Zahlen verraten uns nicht das, was wir wirklich wissen wollen: Wie viele Muslime in den westlichen Ländern befürworten die strengere Auslegung der Scharia, die Steinigungen, Hinrichtungen und Ehrenmorde? Um das herauszufinden, müssen wir einige enger gefasste Fragen stellen. Muslimische Einwanderer und besonders ihre Nachkommen übernehmen, wie oben bereits festgestellt, in vielen Ländern – mit einigen Ausnahmen, zu denen auch Großbritannien zählt – den Gedanken der Gleichberechtigung der Geschlech ter und der Tolerierung sexueller Minderheiten, Vorstellungen, die im Westen inzwischen weit verbreitet sind.
Eine Umfrage zur Todesstrafe – die bei den unangenehmeren Auslegungen der Scharia eine zentrale Rolle spielt – in drei europäischen Ländern ergab, dass 35 Prozent aller Franzosen, 27 Prozent der Deutschen und 50 Prozent der Briten die Ansicht äußerten, die Todesstrafe sei »moralisch akzeptabel«, während sich nur 24 Prozent der französischen, 27 Prozent der deutschen, aber immerhin 63 Prozent der britischen Muslime dieser Aussage anschlossen. Bei der Frage der Eh renmorde gleichen sich die Zahlen der Gesamtheit der Befragten in Frankreich, Deutschland und Großbritannien, die Zustimmung äußerten (2, 1 sowie 1 Prozent), und derjenigen Muslime in diesen Ländern, die ebenso antworteten (3, 3 und 2 Prozent), so sehr, dass sie in den statistischen Fehlerbereich der Untersuchung fallen und die Feststellung nahelegen, dass diese Praxis eine vernachlässigbare Unterstützung genießt. Anders gesagt: Aus den gelegentlichen und beunruhigenden Fällen von Ehrenmorden in diesen Ländern kann man nicht auf eine verbreitete Billigung dieser Praxis unter Muslimen schließen. 13
Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die Muslime in westlichen Ländern sehr viel weniger Interesse an religiösen Geboten haben als ihre Glaubensbrüder in den Ländern, aus denen sie eingewandert sind, dennoch bleiben sie, wie frühere Einwanderer, die religiösen Minderheiten angehör ten, stärker am Glauben orientiert als die übrige Bevölkerung. Aber die Ansichten der Muslime zu Religion und Recht unterscheiden sich – bedenkt man die starke Loyalität, die sie ihren Aufnahmeländern und deren Institutionen entgegenbringen, sowie die geringe Toleranz, die sie für Gewalt empfinden – kaum von dem, was beispielsweise Christen in den Vereinigten Staaten äußern. Die Zahlen verweisen auf einen Teil der Bevölkerung in Europa, der, wie schon frühere Wellen armer Einwanderer, eine unangenehme und schwierige Zeit der Integration durchmacht. In einigen Fällen (zum Beispiel in Großbritannien) halten sich die Einwanderer an althergebrachten sozialen Werten fest, trotz des starken Säkularisierungstrends, der im größten Teil der muslimischen Welt zu beobachten ist. Aber das bedeutet nicht, dass es irgendei nen verbreiteten Wunsch oder ein Bestreben zur Einführung der Scharia in westlichen Ländern gibt. Die Anhänger der Scharia unter den Muslimen scheinen die am stärksten marginalisierten und von der gesellschaftlichen Entwicklung losgelösten Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe zu sein. Diejenigen unter ihnen, die das Rechtswesen beeinflussen könnten, haben das geringste Interesse an religiösem Recht.
Die amerikanischen Wissenschaftler Wajahat Ali und Matthew Duss schreiben: »Um einen angemessenen Vergleich herzustellen: Die extreme christliche Rechte in Amerika
Weitere Kostenlose Bücher