Mythos Ueberfremdung
dadurch in ein kulturelles Ghetto geraten. Letzteres kann schließlich zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit werden, wenn einige Personen den Weg des Extremismus weitergehen, der – für eine noch geringere Zahl – schließlich in den Einsatz von Gewalt als bevorzugtem Mittel des politischen Handelns mündet.«
Wissenschaftler des Londoner Demos-Instituts beschäftigten sich zwei Jahre lang mit radikalen Islamisten und verurteilten Terroristen in Großbritannien und Kanada und stellten dabei fest, dass radikale Gläubige und Terroristen gut auszumachende und sehr verschiedene Personenkreise waren. »Radikale [Gläubige] empfanden auch echte Sympathie für die westlichen Werte der Toleranz und des Pluralismus, für das Regierungswesen und die Kultur des Westens. Das besondere Merkmal der Terroristen war ihr Abscheu vor der westlichen Kultur und Gesellschaft. Die radikalen Gläubigen hatten sich interessanterweise häufiger durch politische Proteste hervorgetan als die Terroristen, ein größerer Teil von ihnen hatte an Hochschulen studiert (tendenziell geisteswissenschaftliche Fächer) und auch eine Arbeitsbiografie vorzuweisen.« Die Terroristen hatten außerdem »eine schlichtere, oberflächlichere Vorstellung vom Islam als die radikalen Gläubigen, das heißt: Ihr Interesse an den tatsächlichen Lehren des Korans war ziemlich gering.« 18
Olivier Roy, der französische Politologe und Experte für islamische Gesellschaften, formulierte es so: »Der Prozess gewalttätiger Radikalisierung hat wenig mit religiöser Praxis zu tun, während radikale Theologie, in der Gestalt des Salafis mus, nicht unbedingt zu Gewalt führt.« Der Prozess der Radikalisierung ist nach Roys Analyse »nicht mit der unver blümten Verurteilung sexueller Freizügigkeit im Westen verbunden, wie sie in konservativ-muslimischen Kreisen so weit verbreitet ist. Al-Qaida-Rekruten sind nicht besonders sittenstreng und pflegen oft den üblichen Lebensstil westlicher Teenager – oder haben früher so gelebt.« 19
Mark Fallon, der Vorsitzende der International Association of Chiefs of Police (IACP), ein ehemaliger Spionageabwehrexperte in den USA, der die Verfolgung Dutzender hochrangiger Terrorverdächtiger verantwortet hat, leitete eine Untersuchung zu Hunderten ehemaligen Terroristen und stellte dabei fest, dass bei diesem Personenkreis weder die Theologie noch eine umfassendere politische Ideologie eine bedeutende Rolle spielten: »Eine Sache, auf die wir überall stießen, ist, dass der Auslöser, der irgendjemanden zur Gewalt greifen lässt, eine sehr persönliche Angelegenheit ist und auf den örtlichen Gegebenheiten beruht. Das weltweite Umfeld wird benutzt, um diese Leute anzuwerben, aber im Allgemeinen ist es irgendeine örtliche Gegebenheit oder ein Einzelereignis, das diese Leute umdreht. Das hat nichts mit Ideologie zu tun; es hat nichts mit Theologie zu tun; es geht um die Identität.« 20 Natürlich wurden Menschen, die sich Terrorzellen anschlossen – wie politisch und persönlich ihre Motive auch immer gewesen sein mochten –, auch zu Gläubigen, und die meisten von ihnen haben ein im Großen und Ganzen fundamentalistisches oder salafistisches Weltbild, so vage dieses auch ausfallen mag. In manchen Fällen werden sie über islamische Erweckungs- und Missionierungsbewegungen wie Tablighi Jamaat (»Gemeinschaft der Verkündigung und Mission«) für den Dschihad gewonnen. Diese Gemeinschaft ist selbst nicht gewalttätig, wird aber von Dschihadistenorganisationen, die auf der Suche nach eifrigen und beeinflussbaren Rekruten sind, benutzt. Daraus ergibt sich zwar, dass diese religiösen Orden unter genaue Beobachtung gestellt werden sollten, es bedeutet jedoch nicht, dass der Terrorismus ein Ergebnis ihrer religiösen Lehren ist.
Fundamentalisten und religiöse Islamisten sind in Wirklichkeit oft die effektivsten Kräfte unter den muslimischen Einwanderern, wenn es gilt, sich den Terrorbewegungen entgegenzustellen. Die Londoner Polizei säuberte die Finsbury-Park-Moschee mit Erfolg von mit al-Qaida vernetzten Sympathisanten und Aktivisten, indem sie eng mit Salafistengruppen zusammenarbeitete, die in der Gemeinde tonangebend waren. Scotland Yard stellte fest, dass die Salafisten (die mit politischen Mitteln einen theokratischen Staat anstreben) einerseits die detailliertesten Kenntnisse über Miteinwanderer besaßen, die für eine terroristische Radikalisierung empfänglich waren, und andererseits auch die größte
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