Mythos Ueberfremdung
dem Schiedsverfahren zugestimmt hatten. Die Gemeinschaft der liberaler gesinnten Barelvi-Muslime rief 2007 eine konkurrierende Institution ins Leben, die Muslim Arbitration Tribunals. Diese Gerichte lösten aus der Sicht einiger Muslime ein Problem, dem sich Einwanderer-frauen ausgesetzt sahen, die zu einem früheren Zeitpunkt und nach pakistanischem Scharia-Recht einen pakistanischen Mann geheiratet hatten: Eine Scheidung nach britischem Recht verschaffte ihnen nicht die religiöse Legitimation, die eine Wiederverheiratung gestattete. Diese religiösen Scheidungen (die manchmal mit einer zivilrechtlichen Scheidung nach britischen Gesetzen verbunden sind) machen den Großteil der Tätigkeit dieser Gerichte aus.
Die Scharia-Gerichte Großbritanniens zogen erhebliche Proteste auf sich, nicht nur vonseiten der Eurabien-Autoren, sondern auch von den Befürwortern der bürgerlichen Freiheiten, die sich darum sorgten, dass diskriminierenden Praktiken auf diesem Weg offizielle Anerkennung zuteilwerden könnte. Wird zum Beispiel das Erbe eines verstorbenen Vaters nach dem Scharia-Recht aufgeteilt, erhalten die Töch ter nur halb so viel wie die Söhne. Das Gericht spricht außer dem die Talaq aus, eine islamische Scheidung, bei der sich, wie beim jüdischen Get (Scheidebrief), der Ehemann einseitig von seiner Ehefrau lossagt. Dieses Recht wird der Frau nicht gewährt.
Ein großer Teil der Empörung über die »heimliche Scharia« in den Vereinigten Staaten bezieht sich auf solche Gerichte. In Moscheen und muslimischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten gibt es sie seit Jahrzehnten, sie gelten als legitime Form der Vermittlung in Konfliktfällen, und ihre Entscheidungen sind deshalb nach dem Federal Arbitration Act von 1925 (in dem religiöse Schiedsgerichte nicht eigens aufgeführt werden) rechtlich bindend. Aber es gibt hier einen Unterschied. Die strikte Trennung von Staat und Kirche, wie sie im Ersten Zusatzartikel (First Amendment) zur amerikanischen Verfassung festgelegt ist, hat zur Folge, dass es vor amerikanischen Gerichten kein Berufungsverfahren gegen Entscheidungen religiöser Schiedsspruchgremien geben kann. Es hat einige Diskussionen über die Frage gege ben, ob Zivilgerichte Entscheidungen der religiösen Gremien, die sich auf ganz und gar nicht religiöse Streitfragen beschränken, etwa auf die Aufteilung von Eigentum, einer Revision unterziehen können. Eine Abhandlung in der Columbia Law Review kam jedoch zu dem Ergebnis: »Religiöse Fragen durchdringen die gesamte Tätigkeit der religiösen Schiedsgerichte«, sodass die Anerkennung irgendeiner ihrer Entscheidungen als rechtsverbindlich wohl einen Verstoß gegen den Ersten Zusatzartikel der Verfassung bedeuten würde. 9
Das mit den »Scharia-Gerichten« verbundene Problem besteht also nicht darin, dass Muslime versuchen würden, ihre religiösen Gesetze im neuen Heimatland durchzusetzen – kein ernst zu nehmender führender Muslim hat das je als Ziel formuliert –, sondern in der sehr viel heikleren Frage, ob es den Anhängern einer Religion (jedweder Glaubensrichtung) gestattet sein sollte, Entscheidungen zu treffen, die sich eher auf ihre Glaubensgrundsätze als auf die Gesetze des jeweiligen Landes stützen. So gesehen ist die Tatsache, dass uns die öffentliche Aufregung über islamische Gerichte auf das weit größere Problem der religiösen Einmischung in das öffentliche Leben stößt – was wiederum einen Schub in Richtung Säkularisierung auslösen könnte –, einer der eher nützlichen Effekte der Hysterie um die vermeintliche muslimische Flut.
Genau das geschah in Ontario. Und etwas Ähnliches geschah in Frankreich, wo der politische Aufschrei über den Islam die Regierung dazu veranlasste, nicht nur das muslimische Kopftuch, sondern auch die jüdische Kippa und das christliche Kreuz aus den Schulen zu verbannen. Der Aufstieg des Islam in den westlichen Ländern könnte sich des halb paradoxerweise als Triumph für die Säkularisierung herausstellen.
Einige Beobachter sind allerdings der Ansicht, dass ein Verbot religiöser Gerichte einen Teil der religiösen Muslime, orthodoxen Muslime und Katholiken dazu bringen wird, diese auf der nicht öffentlichen, privaten Ebene weiterzuführen, was die Ungleichheit und Diskriminierung begünstigen könnte. In Ländern, in denen die Trennung von Kirche und Staat Verfassungsrang hat, wie etwa in der Türkei, in Frank reich und den Vereinigten Staaten, ist dies schon seit Langem ein Dilemma. Oft
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