Mythos Ueberfremdung
angewendet werden sollten, auch das Abhacken der Hand nach einem Diebstahl, das Steinigen von Ehebrechern, das Auspeitschen nach Alkoholkonsum und die Todesstrafe für Homosexualität, Apostasie oder Konversion?
Wenn wir andererseits erfahren, dass eine Mehrheit der Christen in den Vereinigten Staaten sagt, die Gesetze sollten ihrer Ansicht nach auf den Zehn Geboten beruhen, stellt sich genauso die Frage: Meinen sie damit, dass der Übertritt zu einer anderen Religion als schweres Verbrechen bestraft werden sollte, das einem Mord gleichkommt (wie es das Erste Gebot nahelegt), oder dass Abbildungen von Gott oder Jesus Christus verboten werden sollten (wie es im Zweiten Gebot steht und manche Protestanten glauben)? Auf eine kleine Minderheit trifft das vermutlich zu, aber die große Mehrheit hat etwas sehr viel Milderes im Sinn, das sich möglicherweise nicht allzu sehr von den bestehenden amerikanischen Gesetzen unterscheidet.
Die Beliebtheit der Scharia schwankt selbst in den muslimischen Ländern ganz erheblich. In Indonesien, dem Land, in dem die meisten Muslime leben, sind nur 14 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, das Recht solle sich einzig auf die Scharia stützen. Im Iran teilen diese Meinung nur 12 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen, was möglicherweise als Reaktion auf die eher strenge und kompromisslose Auslegung der Scharia durch die das Land beherrschende theokratische Diktatur zu verstehen ist. Auf der anderen Seite befürworten die Hälfte der Jordanier, starke Mehrheiten der Pakistaner und Afghanen und 70 Prozent der ägyptischen Männer ein auf der Scharia gründendes Recht (diese Länder verfügen bereits über Rechtswesen, die zumindest teilweise auf der Scharia beruhen).
Es lohnt sich, die Einstellung zum religiösen Recht mit dem Meinungsbild in westlichen Ländern zu vergleichen. Die Gallup-Demoskopen stellten fest, dass die Mehrheit der Amerikaner sich eine auf die Bibel bezogene Gesetzgebung wünscht: 46 Prozent erklärten, die Bibel solle »eine Quelle« des Rechts sein, und weitere 9 Prozent wünschten sie sich sogar als »die einzige« Quelle des Rechts. Außerdem befürworteten 42 Prozent der Amerikaner, dass »religiöse Führer direkt an der Niederschrift einer Verfassung beteiligt« sein sollten – etwas, das in der Verfassung dann möglicherweise verboten würde –, und 55 Prozent wollten nicht, dass Geistliche hierbei eine Rolle spielen. Die Iraner reagierten auf diese Frage interessanterweise genau gleich. 10 Außerhalb der Vereinigten Staaten befürworten sehr viel weniger Bürger der westlichen Länder ein auf die Heilige Schrift bezogenes Rechtswesen, aber das amerikanische Beispiel zeigt, dass es bei diesem Thema keine strikte Trennung zwischen Ost und West gibt. Ein gewisser Teil jeder religiösen Bevölkerungsgruppe wird aus Antinomisten bestehen – Leuten, die glauben, dass Gottes Gesetze den Gesetzen der Menschen überlegen sind.
Das Interesse an auf religiösen Lehren basierendem Recht nimmt bei den Muslimen nach der Übersiedlung in westliche Länder ab. Die Muslime in den Vereinigten Staaten zeigen – trotz des öffentlichen Aufschreis über die »heimliche Scharia« – ein überwältigendes Desinteresse an der Anwendung der Gesetze des Korans auf sie selbst, von der amerikanischen Gesamtbevölkerung ganz zu schweigen. Eine kanadische Professorin der Rechtswissenschaften befragte 2012 im Rahmen einer Untersuchung zu den Ansichten muslimischer Amerikaner über die Scharia eine repräsentative Stichprobe muslimischer Geistlicher und Juristen quer durch die Vereinigten Staaten: »Keiner der 212 Befragten – unter denen sich zahlreiche Imame, Rechtswissenschaftler, muslimische Rechtsanwälte und andere in der Rechtspflege tätige Personen befanden – äußerte die Vorstellung, dass die Gerichte das islamische Recht unmittelbar auf Muslime (oder Nichtmuslime) anwenden sollten. Nur 3 von 41 Imamen schlugen die Einrichtung eines parallelen islamischen Familiengerichts vor, die überwältigende Mehrheit lehnte diesen Gedanken ab und wollte sich lieber an zivile Gerichte halten. Viele Muslime sehen zivile Gerichte als ›menschliches Recht‹, im Gegensatz zur Scharia, dem ›göttlichen Recht‹, sagen aber ebenso deutlich, dass sie die Gesetze ihres Heimatlandes befolgen müssten – dies wurde immer wieder hervorgehoben –, und sehen hierbei keine Unvereinbarkeit.« 11
Bei einer großen Meinungsumfrage der Tageszeitung Le Monde unter französischen
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